Weihnachten; verklärte Erinnerungen

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von Marie Mehrfeld

Das Christfest meiner Kindheit ist die wichtigste Familienfeier des Jahres gewesen. Unser Siedlungshaus mit den zahlreichen kleinen Zimmern füllte sich um diese Zeit immer wieder, auch, nachdem die vier älteren Geschwister selber Familien gegründet hatten und teilweise in anderen Städten lebten. Brüder, Schwestern, Schwägerinnen, Schwäger; in frühen Zeiten auch Großeltern, Großtante, später die ersten Enkel, alle fanden sich ein, um am 24. und 25. Dezember gemeinsam zu feiern.
Eigentlich begann dieses große Fest schon mit dem ersten Advent. Von dem Zeitpunkt an wurde gestrickt, gehäkelt, geschnitten, geklebt, gesägt und gehämmert. Es entstanden Söckchen, Fäustlinge, Schals, Strohsterne, Untersetzer, Topflappen oder Scherenschnitte. Jeder bereitete für Jeden Geschenke vor unter Einsatz von bescheidenem Material, denn das Geld war knapp. Man lernte Gedichte auswendig. In den Schränken und Kommoden sammelten sich liebevoll verpackte Päckchen an und verstärkten unsere Neugier. Viele Nachmittage waren ausgefüllt. Abends wurden die Kerzen des Adventskranzes angezündet; man spielte, sang, war fröhlich miteinander. Die Plätzchenkisten füllten sich, der Weihnachtsstollen wurde vorbereitet. So jedenfalls berichtet es mir mein Gedächtnis, das die Vergangenheit mit zunehmendem Alter immer verklärter sieht.
Der Höhepunkt war der Heilige Abend. Dieser Tag lief nach einem bestimmten Ritual ab. Vormittags war’s langweilig, keiner hatte Zeit, alle rannten, Türen knallten, wir Kinder fanden keine Beachtung. Das Wohnzimmer durfte von uns „Kleinen“ nicht mehr betreten werden, dort wurde der deckenhohe, meist selbst gefällte Weihnachtsbaum aufgestellt und vom Vater geschmückt. Die alten Krippenfiguren fanden ihren Platz unter dem Baum auf einem Stück Moos, die Gabentische wurden beladen und mit Servietten abgedeckt. Währenddessen wurde in der Küche unter Mutters Regie die Gans gerupft und vorbereitet, die wir am ersten Feiertag mittags verspeisen würden. Am Vierundzwanzigsten mittags gab es „Dick’ Supp“ aus Gänseklein. Frühnachmittags habe ich Botengänge erledigt, Geschenke in der näheren Umgebung verteilt mit Gruß von den Eltern. Aber um Fünfe war’s dann so weit. Im Musikzimmer war der Kaffeetisch gedeckt mit Plätzchen und Christstollen, das letzte Mal der Adventskranz dazu. Aufregung bei meinem jüngeren Bruder und mir wegen der Bescherung, auf die wir sehnsüchtig warteten. Große Erlösung, wenn sich die Glastüre zum Wohnzimmer öffnete, das Glöckchen erklang und wir Kinder uns endlich, endlich Hand in Hand in das verwandelte Wohnzimmer begeben konnten. Wir ließen uns auf dem Boden vor dem Baum nieder, den Blick scheinbar fromm auf die Krippe, die Gedanken ganz auf den Gabentisch gerichtet.
Nun las der Vater mit getragener Stimme die Weihnachtsgeschichte vor. Bei dem Satz "und sie war schwanger" wurde ich stets verlegen. Wenn ich nämlich auf der Straße schwangeren Frauen auf den Bauch schaute und nach der Ursache dieser Rundung fragte, erhielt ich keine plausible Antwort außer – schau da nicht hin, das gehört sich nicht. Schwanger sein war demnach etwas leicht Anrüchiges. Konnte Maria wirklich überaus heilig und gleichzeitig schwanger sein? Dazu hätte ich gerne Fragen gestellt. Das wagte ich aber nicht.
Anschließend wurde „Stille Nacht“ gesungen, danach die alten und neueren Weihnachtslieder mehrstimmig, denn die musikalische Restfamilie hatte auch im Wohnzimmer Platz genommen. Hirtenlieder mochte ich am liebsten, besonders das von Hermann Claudius: „Wisst ihr noch, wie es geschehen, immer werden wir’s erzählen, wie das Wunder einst geschehen, mitten in der dunklen Nacht.“ Ich kenne heute noch alle Strophen. Danach durften endlich die Tische gestürmt werden. Große Freude. Worüber? Kinder von heute würden lachen. Für mich immer die gleiche Puppenstube mit den Biedermeiermöbelchen. Antike Püppchen und eine schöne altmodische Küche mit viel Geschirr gehörten auch dazu. Für den Bruder wurde der Kaufmannsladen aufgebaut. Beide Teile gehörten uns bis zum 7. Januar des neuen Jahres und wurden dann bis zum nächsten Christfest wieder auf dem Dachboden verstaut. Bis dahin spielte und handelte man intensiv unter Einbeziehung der Freunde, Freundinnen aus der Nachbarschaft. Außerdem gab es einen Teller mit Plätzchen und jeweils ein Geschenk, zum Beispiel ein Buch oder ein notwendiges Kleidungsstück. Damit fühlten wir uns reich beschenkt.
Während der Bescherung ging es hoch und laut her. Man bedankte, umarmte, freute sich und lachte in allen Tonlagen. Nachdem die erste Hektik abgeklungen war, wurden anspruchsvollere Sätze mehrstimmig gesungen, meistens auswendig.
Es folgte ein bescheidenes, wohl typisch deutsches Heiligabendessen – Heringssalat und Würstchen mit Kartoffelsalat. Spät abends besuchten Große und Kleine miteinander die Christmette in der nahe gelegenen klassizistischen Kirche und nahmen an dem vorwiegend musikalisch gestalteten Gottesdienst teil. Selbstverständlich war die Kirche bis auf den letzten Emporenplatz besetzt. Wir sangen laut schallend gemeinsam mit der Gemeinde, ohne ins Gesangbuch zu schauen.
Zu den Zeiten, als die Familie noch vollständig und zahlreich versammelt war, zogen wir nach dem Gottesdienst als kleiner Chor zu einigen Siedlungshäusern, in denen Freunde wohnten. Wir brachten ihnen ein vielstimmiges weihnachtsmusikalisches Ständchen dar. Zur Belohnung gab’s ein paar Plätzchen oder einen Schnaps. Der Heilige Abend endete auch für die Kinder weit nach Mitternacht.
Am ersten Feiertag war für mich das Weihnachtszimmer selber am spannendsten. Einmal stand ich frühmorgens vor der Familie auf und schlich mich nach unten. Genoss es, dort ganz alleine zu sein. Zündete eigenmächtig zwei, drei Kerzen an. Setzte mich auf Mutters Sofa, legte die Beine auf den Tisch. Stopfte Minnaplätzchen und für die Großen reservierte mit Schnaps gefüllte Pralinen in mich hinein. Schnupperte den Weihnachtszimmerduft, ein Gemisch aus Tannenharz, abgebrannten Kerzen, Zimt, Zigarettenrauch. Ich tat Verbotenes, benahm mich unflätig, so hätte es mein Vater ausgedrückt. Das erzeugte die angenehmsten Weihnachtsgefühle in mir. Nach Beseitigung aller Spuren dieser Völlerei verzog ich mich zufrieden ins Kinderzimmer und kroch noch mal für kurze Zeit ins warme Bett.
Mittags dann das große Gänseessen gemeinsam mit selten weniger als zehn Personen, eingeleitet durch ein besonders ausführliches Gebet. Die Gans war nie groß genug für uns alle. Deshalb waren die Fleischstücke auf den Tellern bescheiden. Es sollte auch noch etwas für den nächsten Tag übrig bleiben. Man begnügte sich vorwiegend mit dem Gehackten, das den Gänsebauch füllte. Nach dem Mahl wanderte das fast fleischlose Federvieh in den Fliegenschrank, der im Keller stand. Mein jüngerer Bruder und ich machten uns manchmal zum späteren Zeitpunkt heimlich dort unten im Halbdunkel über die Restgans her und verspeisten gierig alle Teile, die wir in die Pfoten bekommen konnten. Den Geschmack der hastig abgerissenen Gänsemuskelstreifen habe ich immer noch auf der Zunge. Am nächsten Tag war nur noch das blanke Gerippe des Weihnachtsvogels vorzufinden, die Familie wunderte sich. Wir beiden „Kleinen“ aber waren zufrieden. Wir hatten uns unseren Teil geholt.
Der Rest des Weihnachtsfestes lief eher locker ab. Es wäre jedoch weder an festlichen noch an normalen Tagen denkbar gewesen, dass jeder sich abends in der Küche eine Stulle schmiert. So wie das heute üblich ist. Dreimal täglich hat man miteinander am Tisch gesessen und die Mahlzeit eingenommen unter Beachtung der vereinbarten Regeln. Auch, wenn ich das damals oft lästig fand - es hat uns miteinander verbunden. Wenn ich an die Weihnachtsfeste meiner Kindheit zurückdenke, habe ich heute noch ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme, von Familie, wie man sie sich wünscht.

Die tragfähigsten Rituale bei Festen sind die, bei denen ein zugewandtes Wir-Gefühl entsteht. Dazu gehört Weihnachten, es ist hierzulande immer noch das beliebteste aller christlichen Feste. Doch seine Traditionen sind wie so viele andere althergebrachte Regeln im Wandel, sie werden zunehmend verflacht oder gehen ganz verloren. Bedingt auch durch wachsende religiöse Indifferenz ertrinkt das Christfest im Geglitzer und Geplärr von Konsum, Klischee und Kitsch. Dabei brauchen wir Menschen in dieser Zeit des rasenden Wandels echte, ehrliche Rituale und Bräuche mehr denn je, denn sie schenken uns, wenn auch vorübergehend, das Gefühlt von Zusammenhalt in einer immer weiter auseinander driftenden und zutiefst gespaltenen Welt. Besonders im Rahmen der Familie erfüllen sie ihren Sinn. Daran, wie man als Kind Weihnachten gefeiert hat, denkt man oft noch sein Leben lang. Diese Gedanken haben mich dazu gebracht, meine Weihnachtserinnerungen aufzuschreiben, um sie mit euch zu teilen am ersten Weihnachtstag 2019.

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