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eine halbe Stunde vor der Zeit am Treffpunkt eingetroffen war.
Langsam stieg ich die marode Treppenleiter zum Hochsitz hinauf. Ein jähes Splittern von Holz – und ich fiel ins Unendliche, wie mir schien. Eine Stufe war zerbrochen.
Noch während meines Falls auf den Waldboden, vernahm ich, dass eine Kugel über meinem Kopf hinwegfegte. Mein letztes Stündchen, wenn nicht gar Minütchen hatte geschlagen.
Es schüttelte mich am ganzen Körper, liebe Christine. Die Angst stieg diffus vom Magen hoch, krampfte meinen Herzmuskel zusammen und schnürte mir sauer die Kehle zu. So ähnlich muss sich ein Infarkt anfühlen, dachte ich, und wenn man dann noch ein Magengeschwür hat ...
Zwei Gesichter beugten sich über mich, die unsanft auf dem harten Waldboden gelandet war.
„Du wolltest die Schnepfe doch unbedingt kennenlernen“, sagte Helge. „Das ist sie, Katja Kleve, die dumme Nuss."
Ich schnappte nach Luft.
Alles hatte ich erwartet, nur nicht, dass Helge einen Komplizen mitbringen würde.
Ohne auf den stechenden Schmerz in meiner rechten Wade zu achten, stemmte ich meine Füße gegen den Waldboden. Ich hatte mich soeben mühsam erhoben und sämtliche Kräfte mobilisiert, um aufrecht zu stehen, auf Beinen, die sich anfühlten, als bestünden sie aus jenem Gelee, wie man sie für die Füllung von Ostereier verwendet, als Helge mich an der Schulter packte und wieder zu Boden warf. Im Gesicht seines Begleiters zuckten ein paar Muskeln, ob zu meinen Gunsten, ließ sich nicht deuten.
Der Jüngling hatte haselnussbraune Augen, dunkelblonde, kurz geschnittene Haare und einen breiten, vollen Mund. Eigentlich sah er ganz symphatisch aus.
Ungefähr Helges Alter, registrierte mein Unterbewusstsein.
„Na, dann wollen wir mal“, grinste Helge verkrampft, als brächte ihm die Sache keinen Spaß, was ich absolut nicht glauben konnte, und fuchtelte mit zwei Tauenden herum. „Ordinäre Kälberstricke“ hatte Hannes diese Teile damals genannt … damals, als wir den Wald nach Kora absuchten.
„Damit du mir nicht wieder abhaust“, hohnlachte Helge. „War doch ganz nett – unsere kleine Schnitzeljagd neulich durch den Wald?!“
Meine Zähne gruben sich dermaßen fest in meine Unterlippe, dass ich Sekunden später spürte, wie mir ein Rinnsal Blut, das nach Eisen schmeckte, übers Kinn lief. Vor meinen Augen tanzten blitzende, viergezackte Sterne, und mein Kopf dröhnte, als sei ich nicht nur im Traum mit jener Kanonenkugel des Lügembarons von Münchhausen kollidiert, die ihn zwecks Spionage in die feindliche Festung befördern sollte.
Ich war der Ohnmacht nahe. Das verrieten mir jene Myriaden von Nebelfetzen, die plötzlich umherwallten, als hielten meine Häscher mich aus einem der Fenster dieser zahlreichen Schlösser im dunstigen Dartmoor, um mich in die Sümpfe fallen zu lassen.
„Wir fesseln ihre Füße, damit sie sich wenigstens kratzen kann, wenn das Näslein juckt“, griente der Hoferbe.
„Nein, dann kann sie sich doch nicht fortbewegen. Du hast mir versprochen ...“, rief sein Komplize. In seiner Stimme lag blankes Entsetzen.
Ich hoffte inbrünstig, dass Helge es nicht bemerkte. Er hätte ihn über den Haufen geschossen.
„Weißt du was“, schob Helge mit einem diabolischen Grinsen hinterher, nachdem er seinen Kumpel lediglich mit einem verwunderten Blick gestreift hatte, „wir fesseln sie an Händen und Füßen. Anderenfalls krabbelt die uns noch davon. Mitleid können wir uns nicht leisten. Die verpfeift uns garantiert bei der Polizei. Denk an deine armen Eltern und an euren heruntergekommenen Hof. Jetzt gibt es kein Zurück mehr."
Heribert, dachte ich sogleich. Heribert Wegener, dieses verlogene Aas. Und ich hatte gedacht, er sei im Gegensatz zu Helge ein anständiger Kerl.
„Das habt ihr euch wohl so gedacht, dass ihr mit meinem Geld die Kurve kratzen könnt, du und dein feiner Freund, das Balg vom neuen Gutsverwalter“, keifte Helge. „Noch nicht mal das Abitur in der Tasche und schon Kriminalkommissare markieren. Ihr blöden Angeber!“
„Hannes hat mit der Sache überhaupt nichts zu tun“, fauchte ich.
„Ach ja, du Rotzlöffel? Und das soll ich dir glauben?“
Helge redete wie ein Wasserfall. Wenn meine Lage nicht so bedrohlich gewesen wäre, hätte ich aus dem Staunen nicht mehr herausgefunden, liebe Christine.
Auf dem Gut gab sich Helge buchstäblich stumm – wie ein auf Beute lauernder Steinfisch auf dem Grund des Indischen Ozeans.
„Eine Leseschwarte hab ich nicht mitgebracht, Kleve. Na ja, hier im Wald und dazu noch in einem gemütlichen Erdloch wird es eh schnell dunkel, und wenn du Durst verspürst, brauchst du nur deine Futterluke aufzusperren, wie im Schlaraffenland – sofern es in diesem Sommer nochmal regnen sollte. Und Musik gibt es auch noch gratis.“
Er legte eine Hand um die Ohrmuschel und tat so, als lauschte er andächtig dem Gezwitscher der Vögel. Dann lachte er mit einem Mal höhnisch auf.
„Möglicherweise bekommst du ja heute Nacht Gesellschaft – von einer netten Wildsau oder einem charmanten Keiler. Die sollen sich hier ja massenhaft herumtreiben und auch sonst noch allerlei zwielichtige Gestalten. Mein herzliches Beileid.“
„Solche wie du“, murmelte ich.
„Schnauze, dämliche Schnepfe“, schnaubte Helge und stieß mir seinen Reitstiefel ins Kreuz.
„Du musst wissen, Heribert, die dumme Kuh übernachtet gern in Schweineställen. Hat Heiner mir neulich gesteckt."
Elender Verräter, dachte ich wütend.
„Das Rauschen der Tannen wird dich in den Schlaf wiegen. Vielleicht ist morgen schon alles vorbei.“ („… morgen ist alles vorüber, morgen ist alles vorbei, morgen gehst du fort von mir ...", summte es ganz unangemessen in meinem Kopf.)
„Einen schöneren Tod zu erleiden als hier im Wald gibt es nicht“, fuhr Helge mitleidslos fort.
Heribert, den ich vor Hannes über den grünen Klee gelobt hatte, sah mich bedauernd an.
Was für ein elender, scheinheiliger Feigling, mehr fiel mir zu diesem Typen, der sich am Telefon hinterhältig freundlich gab, nicht ein.
„Ach ja“, fuhr Helge fort. „Ich habe neulich vernommen, dass es im Lachauer Forst auch Luchse geben soll. Vor denen brauchst du aber keine Angst zu haben. Die sind nicht so dämlich, dass sie in eine Grube fallen.“
„Blödsinn“, erwiderte ich. „Luchse sind in Europa so gut wie ausgestorben.“ (Ich muss unbedingt Konny dazu befragen, sofern ich jemals lebend aus diesem Loch herauskomme, liebe Christine.)
Helge blitzte mich wütend an. „Wölfe und Kojoten (das sind doch Präriehunde, fiel mir Gott sei Dank ein) gibt es hier mit Sicherheit.“
“Ja, ja“, grinste ich. „Und Waschbären, Nashörner und Krokodile.“
Heribert griente ebenfalls, aber Helge hatte es zum Glück nicht bemerkt.
„Nee, aber Reineke Fuchs“, fauchte Helge.
Reineke Fuchs? – Reineke Fuchs!
Ein scharfsinniger Gedanke aus der Grütze, die Mutti zufolge fast ständig in meinem Kopf herumzuschwappen pflegt, näherte sich behutsam und leise: Vermutlich hat Helge irgendwann einmal Fabeln gelesen, dachte ich. Da bietet sich doch die Gelegenheit zu einer vernünftigen Kommunikation! Möglicherweise ist doch noch nicht alles verloren! Ich hatte mir nämlich erst kürzlich „Äsop“ aus unserer Schulbücherei ausgeliehen und kannte etliche seiner kürzeren Fabeln fast auswendig. Wenn ich ihm nun wie Scheherazade in Tausendundeiner Nacht eine Story nach der anderen liefere, bleibt es mir möglicherweise erspart, dass mir dieser Sommer vollends das Genick bricht ...
„... und Meister Petz“, lächelte ich freundlich und kein bisschen ironisch, liebe Christine, wie du jetzt vielleicht annehmen könntest.
„Adebar, Isegrim, Meister Lampe und Mümmelmann …". Ich kramte ich fieberhaft in meinem Gedächnis, um eine Gemeinsamkeit herzustellen, und gab mir trotz aufkeimender Panik Mühe, meine Stimme derart begeistert klingen zu lassen, als übten vermenschlichte Tiernamen eine enorme Faszination auf mich aus. Aber weitere humane Bezeichnungen für unsere kleinen und großen Viecher wollten mir partout nicht einfallen.
Helge sah mich einen Moment lang dermaßen interessiert an, dass ich mich fragte, welche Erinnerung ich bei ihm ausgelöst haben könnte. Es wäre ja möglich, dass ihm sein Vater im Kindesalter Tiergeschichten vorgelesen hatte – vor dem Einschlafen oder während er mit Ziegenpeter oder Mumps das Bett hüten musste.
„Meister Petz nicht, aber ...“, sagte Helge. Er hielt mitten im Satz inne und brüllte plötzlich: „Schluss jetzt mit dem Theater!“, was gar nicht nötig getan hätte. Ich hatte bereits aus freien Stücken beschlossen, den Mund zu halten. Das Leben der Säugetiere war ohnehin nicht meine Stärke, und er hätte ein leichtes Spiel gehabt, mich glauben zu machen, dass im Gutsforst noch weitaus gefährlichere Biester hausten; denn meine Kenntnisse über die Fauna hielten sich beträchtlich in Grenzen, was ich zu jener Schreckensstunde überaus bedauerte, liebe Christine.
Voller Entsetzen starrte ich in das tiefe Erdloch hinunter, wohin sie mich geschleppt hatten. Es glich eher einer Grube, nein, es hatte Ähnlichkeit mit einem aufwendigen Familiengrab: zirka drei Meter lang, zweifünfzig breit und weit über drei Meter tief – eine dubiose Kinderkammer im Neubaustil, mit niedriger Decke, ein regelrechtes Mausoleum, die Grabkammer eines Pharaos; leider vermisste ich einen passablen Eingang, den man passieren konnte, ohne sich gleich das Genick zu brechen. Wen außer mir wollten sie hier noch bestatten? Die Wände waren steiler als die Eiger-Nordwand und sahen dermaßen glatt aus, als seien sie von Helge zur Feier des Tages poliert worden. Ob man aus diesem nach Würmern stinkenden Kerker überhaupt entkommen konnte? Allerhöchstens mit einer Bergsteigerausrüstung …, die mir Helge und sein feiner Kumpel Heribert wohl kaum nachwerfen würden. Diese Falle konnte nur ein Satan ausgehoben haben. Ich wusste mit einem Mal, dass mein letztes Stündchen geschlagen hatte, sofern nicht doch noch ein Wunder geschehen würde.