Der Ort lag in Sichtweite

Bild von Susanna Ka
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Der Ort lag in Sichtweite.

Das war heute Morgen allerdings auch schon so gewesen, als er das Auto auf dem mit Schlaglöchern durchsetzten Parkplatz abgestellt hatte. Mit raumgreifenden Schritten war er losgegangen. Die Wanderkarte hatte er im Auto gelassen, ebenso die Wasserflasche. Schließlich leuchteten die roten Dächer schon durch die Bäume.
Er wanderte die alte Straße entlang. Kein Mensch begegnete ihm, kein Auto, nur Stille.
Stunde um Stunde.
Als die Sonne den Vormittag hinauf kletterte, ließ die Hitze die Luft flimmern und der Asphalt wurde klebrig. So klebrig wie sein Gaumen. Hätte er doch nur diese verdammte Wasserflasche mitgenommen! Schwitzend und fluchend fand er schließlich einen Pfad, der ihn in das Buschwerk am Straßenrand führte.
Schatten. Hier blieb er erst einmal hocken. Im Laub vom vergangenem Jahr. Der Schweiß brannte in seinen Augen und tropfte an seinem Kinn hinunter. Sein Oberhemd hatte sich mit den Ausdünstungen seines Körpers vollgesogen. Eine Brombeerranke krallte sich feindselig in seinen Unterarm, zerfetzte den hochgekrempelten Ärmel und hinterließ eine blutige Spur. Wütend verteidigte sie ihre Früchte, nach denen er gegriffen hatte.
Von seinem Laubhaufen aus sah er einen Weg, der parallel zur Straße, dem Ort entgegenlief. Links die Schatten spendenden Büsche, rechts der Wiesenrain mit Kornblumen und Margeritten. Bienen summten betörend. Diesen Weg würde er nehmen. Es konnte nun nicht mehr so weit sein, der Ort lag doch schon in Sichtweite.
Schmetterlinge gaukelten durch die glühende Luft, huschten hierhin und dorthin und narrten seine geblendeten Augen. Gleißende Helle. Die Sonnenbrille lag im Auto.
Wieder wanderte er Stunde um Stunde.
Am späten Nachmittag wurde es kühler. Der Himmel verlor seine bedrohliche Hitze und färbte sich in ein freundliches Blau. Ein Luftzug umfächelte ihn. Die Vögel begannen zu singen. Die Schmetterlinge tanzten immer noch von Blüte zu Blüte, und ganz plötzlich hatte er das Gefühl, seinem Ziel schon ganz nahe zu sein.
Noch einmal wollte er sich ausruhen.
Er sank in die Wiese und atmete den Duft der Gräser ein, hörte das Glucksen eines Wasserlaufs und blieb – betäubt von so viel Wohlbefinden – einfach liegen. Eine stachellose Brombeerranke reichte ihm eine Hand voll Beeren zum Abendbrot.
Ob er es heute noch schaffen würde? Die Häuser waren ganz nah, der Ort lag doch schon in Sichtweite.
Dann wurde es dunkel. Mit einem Schlag. Die Vögel verstummten, die Schmetterlinge verschwanden und statt ihrer huschten jetzt Fledermäuse durch eine mondlose Nacht. Also blieb er wo er war und machte es sich bequem.
Stimmen drangen zu ihm, Musik und Lachen. Die Menschen im Ort feierten. Er hatte doch dabei sein wollen!
Und nun lag er hier, gebannt auf halber Strecke.
Morgen, gleich Morgen früh, mit dem ersten Sonnenstrahl, würde er wieder aufbrechen. Wenn er Glück hatte, konnte er zum Frühstück schon dort sein.

Der Ort lag schließlich schon in Sichtweite.

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Kommentare

29. Jan 2016

Das ist ja lustig!
Dankeschön.
LG, Susanne