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Adelig
I
Ich bewohnte mit fünf Personen - fünf Personen eventuell inklusive mir - ein Haus in einer alten Stadt. In der Zeile geschichtsträchtiger Häuser trat das Haus um ein anständiges Stück zurück, sodaß vor ihm ein wohlproportionierter Platz entstand, der den Maßen des Hauses und der Straße entsprach, gerade richtig zur bequemen Vorfahrt einiger Fahrzeuge oder zur Versammlung einer angemessenen Anzahl von Menschen. Beinahe längs des gesamten oberen Stockwerks lief ein etwa ein Meter tiefer Balkon, der in regelmäßigen Abständen von steinernen Balken getragen wurde und ein einfaches, edles Eisengitter hatte. Die Front des Hauses war aus braungrauen Steinquadern von ungefähr einem halben mal einem viertel Meter errichtet. Die Tor- und die Fensterstöcke waren aus je zwei senkrechten und waagrechten Steinblöcken gebildet, wobei die senkrechten Blöcke auf dem jeweils unterm Block ruhten und den jeweils oberen Block trugen. Das Tor und die Fensterläden aus grauen Holzbalken waren im umgekehrten Sinn gefügt. Drei waagrechte Balken waren in zwei senkrechte gefügt, zwischen ihnen lagen quadratische Felder.
Die Pflasterung des Platzes vor dem Haus und die der Straße war eine ornamentale Arbeit im selben Rhythmus. Das Haus und der Platz und die Straße schienen eins zu sein. Die anderen Häuser der Straße gehörten sichtlich dazu, waren von gleicher Art und Geschichte, aber nicht von gleichem Atem. Das Haus war die Kraftpumpe der Straße und die Straße war das stille Kraftzentrum der Stadt, nicht ihr Mittelpunkt.
Für Vorbeigehende verkörperte das Haus in sich selbst Begründung, wahre Kraft ohne Protz. Die Front des Hauses erweckte das Gefühl, daß hier, wo die Macht wohnt, sie sich herunterspielt, daß hier der absichtsvoll bescheidene Eingang zu Qualität, kraftvoller Existenz, Großzügigkeit sei, hier wurde eigener, stolzer Besitz zu Plunder. Kenner der Adeligkeit sahen in dieser Front den Eingang ins Zentrum, den unscheinbaren Eingang in den Palast der wahren Macht, spürten hier den Sitz von Ebenmaß, Disziplin, Kraft, Klarheit und Wirklichkeit.
Die steinerne Halle, in die der von außen Kommende, dem sich das eher schmale und niedrige Tor öffnete, trat, wurde den Erwartungen desselben vollkommen gerecht. Sie wurde vom Licht, das durch die Fenster zu beiden Seiten des Tores fiel, nur mäßig erleuchtet. An der dem Eintretenden gegenüberliegenden Wand führten nach links und rechts zwei Treppen in der rationalen, geheimnislosen Düsternis, solide und prunklos, in die Räume des oberen Stockwerks, welche die Bewohner des Hauses bewohnten. In der Mitte der Wand befand sich eine torartige Türe in den Hinterteil des Hauses, zu den Sälen, den Wirtschaftsräumen, in die sich dahinter ausbreitenden Gartenanlagen. Den fremden Besucher ergriff vor dieser Tür das Gefühl, er stünde vor dem Tor von Unbeschränktheit, mächtigem Besitz, großzügiger Existenz, von wahrer Kraft. Hatte er auch noch so teure Kleidung angelegt, ihn erfaßte vor den bescheiden, nie neu gekleideten, die Treppen zu beiden Seiten herabkommenden, sichern, selbstverständlichen, Teilnahme mit ihm zeigenden Bewohnern des Hauses unausweichlich ein Gefühl eigener Minderwertigkeit, Unsolidität, ein Gefühl, bei Spiegelfechterei, plumper Angeberei und Lüge ertappt worden zu sein. Es erschien ihm anmaßend, daß er es wagte, in das Haus der wahrhaften Macht getreten zu sein, ein trügerisches Selbstbewußtsein hatte ihn verführt, den Werten das wahrhaften Adels ins Angesicht zu treten, wie ein Schnee in der Sommersonne zerschmolz es dahin.
Die Bewohner des Hauses waren andauernd voll mit den vom Schicksal an sie gestellten Ansprüchen beschäftigt. Nie waren sie müßig, immer unterwarfen sie sich der Disziplin ihrer Existenz, quälten sich um die Tugenden der Auserwählung und der Macht und sie erlangten in dieser permanenten Hingabe in den hohen, den anerkannten Sparten unerreichbare Überlegenheit, nirgendwo begegneten sie einem, der ihnen gewachsen war und immer vermieden sie schädlichen Einfluß. Die tatsächliche Überlegenheit rechtfertigte ihr Bewußtsein, rechtfertigte sie als Bewohner dieses Hauses, erwies die Rechtmäßigkeit ihrer Macht, erzeugte die Macht, die das Haus ausstrahlte. Die Bewohner des Hauses empfanden die Anforderungen der Adeligkeit als Auftrag und die Erfüllung derselben als Legitimation. Nie kam ihnen die Idee, den Kodex ihrer Tugenden als einen unter beliebig vielen anders aufgebauten zu betrachten. Sie waren, natürlich, Absolutisten.
Damals wußte ich noch nicht, was ich später erfuhr. Ich hielt mich damals für geisteskrank. Ich mußte annehmen, daß an meinen Mitbewohnern und am Haus alles so war, wie es erschien und daß das unbeschreiblich Schreckliche, das ich seit frühester Kindheit in dem Haus und an seinen Bewohnern sah, Hirngespinste meinerseits waren. Wenn zum Beispiel offensichtlich zu Tage lag, wie es dahinter wirklich war oder wenn unter den Bewohnern des Hauses ungeheure Ereignisse geschahen, erkannte ich in den Mienen meiner Mitbewohner nicht die geringsten Spiegelungen davon. Es gab keine Möglichkeit, über gewisse Tatsachen zu kommunizieren, manche Dinge, die zum Greifen dalagen, waren für sie unsichtbar, so als würden sie sich für sie ultraviolett oder in unhörbarer Tonhöhe darstellen. Heute weiß ich, daß keine Existenz verleugnen kann, worauf sie im Innersten aufbaut, daß sie für offen vor ihr zu Tage Liegendes wirklich blind sein kann, es wirklich nicht sieht. Die Bewohner des Hauses waren überzeugt, zu sein, als was sie und das Haus erschienen. Natürlich, sonst nämlich wären sie es nicht gewesen.
Ich lebte dreißig Jahre in dem Haus und sah unsagbare Dinge, die keiner meiner Mitbewohner rezeptierte. Dazu ist der Mensch in Wahrheit nicht gebaut. Es ist zum wahnsinnig werden, etwas daliegen zu sehen, das für alle Angehörigen nicht existiert. Alle Bewohner des Hauses waren mit andauernder Wichtigkeit beschäftigt, waren immer voll Verantwortung und Besorgnis. Die kreatürlichen Bedürfnisse wurden auf unsichtbare, für mich immer geradezu geheimnisvolle Weise aus den Wirtschaftsräumen gedeckt. Der normale Aufenthalt der Bewohner fand oben statt, sie erschienen andauernd wichtig beschäftigt, durften auf keinen Fall gestört werden. Sie traten auf den Balkon oder empfingen in der Halle oder sie verließen das Haus zu unbekannten Tätigkeiten, verwaltenden, geschäftlichen, behördlichen, kirchlichen - sakralen, staatlichen und solchen der hohen Kultur.
Vom hinteren Teil des Hauses sprachen die Bewohner nur als von den Sälen und von den Gartenanlagen, aber die Zeiten wären jetzt nicht danach, die Lage sei angespannt, man müsse wachsam sein, die Beschäftigung nehme alle Kräfte in Anspruch. Es sind jetzt harte Zeiten, wir könnten uns jetzt nicht durch Ausschweifungen schwächen, der Böse schlafe nicht, das Vaterland sei in Gefahr, den Ansprüchen muß
Kommentare
Stark!
LG Uwe
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