Adelig - Page 3

Bild von Karl Hausruck
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war es vorbei, ich war nur noch ein Arm der Wirklichkeit, ich hatte keine Angehörigen mehr. Ich hatte keine Entscheidungsgewalt mehr im Kampf, der zwischen Wirklichkeit und Trug tobte. Ich konnte mich, die Wirklichkeit, nicht vom Trug endgültig verschlingen lassen. Das Unterbewußtsein meiner Anverwandten wollte mich töten. Ich wurde Wirklichkeit. Ich vollendete die Anstrengungen der Realität. Ich packte das Geländer zu beiden Seiten des Risses und scherte es mit titanischen Kräften auseinander. Ich vernichtete den Trug. Ich wurde identisch. Keiner weiß genau, was geschah. Es soll eine Explosion gegeben haben. Am nächsten Morgen fand man das Haus vollständig in Trümmern. Nur noch das kräftigste Baumaterial war vorhanden. Alles andere, weichere war verflüchtigt, verdampft, atomisiert. Von den Bewohnern sah keiner mehr die geringste Spur.

II

Ich war seit fünfzehn Jahren nicht mehr in der Stadt gewesen. Seit damals lebte ich in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Welt. Ich wußte nicht, wie ich in diese andere Welt gelangt war. Ich fand mich plötzlich dorthin versetzt. Ich sehe heute, wie angenehm und würdig und voll Erinnerung ernster geschichtlicher Vorgänge diese von seinen Bewohnern in unglaublichem Bemühen am Leben gehaltene Stadt ist.

Mit Erregung betrat ich die mir auf Anhieb wieder vertraute Straße. Aus so unterschiedlicher Welt nach so langer Zeit ich auch kam, mir waren sofort wieder alle Regungen und Beweggründe dieser Straße verständlich.

Plötzlich stand ich wieder vor dem Haus. Es traf mich wie ein Blitz. Im ersten Moment dachte ich wahrhaftig, es wäre noch das alte Haus. Das Haus, vor dem ich stand, erweckte dieselben Gefühle, war genau von der Art des alten Hauses, fügte sich in genauer Entsprechung an das Pflaster des kleinen Platzes, hatte den Atem des alten Hauses. Natürlich, es war ein neues Haus, aber auch seine Fassade aus Steinblöcken gefügt, wenn auch anderer Proportion und auch längs seines ganzen oberen Stockwerks lief ein Balkon, wenn auch mit geschlossener, abweisender Balustrade. Aber es war unzweifelhaft, es war das alte Haus, jemand hatte es in diesem Jahrhundert mit dem gleichen Atem errichtet wie sein erster Bauherr vor dreihundertfünfzig Jahren. Er hatte die alte Lebenskraft erneuert. Wer war das? Sind damals nicht alle Bewohner umgekommen außer mir, der ich alles rechtzeitig erkannte? Aber könnte es in dieser Geschichte nicht noch mehr Seltsames geben? Wurde denn jemals geklärt, wie ich jener Katastrophe entkam, wer mich wo genau bewußtlos aufgefunden hatte und mich in Sicherheit brachte?

Ich fühlte immer deutlicher, daß es das alte Haus war, vor dem ich jetzt stand. Ich konnte nicht mehr an mich halten. Der Besitzer des neuen Hauses mußte das alte Haus in sich gehabt haben. Wer war es? Die Fensterläden des Hauses waren fest verschlossen, das Tor zugesperrt. Ich klopfte heftig, aber niemand öffnete. Das Haus schien unbewohnt. Ich fragte Vorüberkommende, ich erkundigte mich bei den Behörden. Nach dem Ereignis blieb das mit Trümmern übersäte Grundstück mehrere Jahre lang verwaist. Man begann, das alte Haus zu vergessen. Die Stadtverwaltung bemühte sich lange um eine Neubebauung, um das Bild der würdigen Straße wieder herzustellen. Aber die Suche nach den urkundlich belegten Erben verlief ohne Erfolg. Vor einigen Jahren traf plötzlich ein einwandfrei autorisierter Bauauftrag mit genau festgelegtem Bauplan und gesicherter Finanzierung bei den Behörden und bei der angesehensten Baufirma des Distriktes ein. Das neue Haus wurde an der Stelle des alten errichtet, es ersetzte vom Anfang an das alte Haus in jeder Hinsicht vollwertig. Jeder spürte das. Für die Bewohner der Straße, ja der ganzen Stadt war es wie die Wiederkehr einer Liebe, wohl nicht des geliebten Sohnes, eher des Herrn. Diese Wiedererrichtung, so fühlten es alle, war eigentlich ein Wunder. Dabei war es eindeutig ein neues Haus, keine historisierende Rekonstruktion. Es wurde nie bekannt, wer der Bauherr war, nie wurde ein Eigentümer erblickt, das Haus stand die ganze Zeit leer. Vom Tag der Fertigstellung an waren die Fensterläden geschlossen, war die Tür versperrt. Dennoch machte das Haus keinen toten Eindruck wie so viele Häuser, wenn sie verlassen stehen. Das Haus schien lebendig, es war die alte Kraftpumpe der Straße.

Mit den Jahren verwunderte auch die Unbelebtheit des Hauses keinen mehr. Jeder war erleichtert über seine Erbauung. Das neue Haus erfüllte seinen Zweck in der heutigen Gestalt wie das alte Haus den seinen in seinem damaligen Aussehen erfüllt hatte. Ja die Unsichtbarkeit der Besitzer des neuen Hauses entsprach genau den Erfordernissen dieser Zeit so wie die Repräsentanz der Besitzer des alten Hauses den Bedürfnissen der vergangenen Jahrhunderte entsprach.

Zwei Nächte und einen Tag stand ich vor dem Haus. Ich konnte mich nicht losreißen. Ich fuhr mit den Fingern über die frischen Riefelungen, die die Meißel der Steinmetze im gelbbraunen Stein des neuen Hauses hinterlassen hatten. Ich betrachtete die wehrhaften Platten der Balkonbrüstung und die Täfelung der schweren Haustüre. Überall erkannte ich die alten Funktionen eines sich untertreibenden Eingangs zu wahrer Macht.

Nach zwei Nächten und einem Tag wußte ich, daß die alten Bewohner noch lebten. Es hatte sich im Grunde nichts geändert, nur daß ich nicht mehr dazu gehörte. Sie hatten es wieder geschafft. Es hatte nichts genützt.

Ich mußte in meine neue Welt zurückkehren, es war höchste Zeit. Ohne Wehmut kehrte ich dem neuen Haus den Rücken, verließ den Platz, die Straße. Aber gerade, als ich endgültig die Stadt verlassen wollte, sah ich auf dem Gehsteig einer Straße im neuerbautem Vorort eine unscheinbar gekleidete Frau. Es durchzuckte mich, ich war ein anderer. Sie erkannte sofort, daß es sinnlos war, die Ahnungslose zu spielen. Ich hieß sie, mit mir zum Haus zu gehen. Sie ging wie in Hypnose. Sie atmete erregt und blickte mich immer wieder flehentlich an. Sie war eindeutig eine Königin von damals, ich mußte damals mit ihr zusammen im alten Haus gewohnt haben. Auch für sie war alles klar. Und vor allen Dingen, ich hatte Macht über sie. Ich spürte meine Macht über sie wie ich damals ihre Macht und die des alten Hauses über mich spürte. Ich empfand jetzt meine Macht wie ich damals meine Unsicherheit, meinen Zweifel an mir selbst, das Gefühl des nicht normal seins spürte.

Alles ging sehr schnell. Als wir vor dem Tor des neuen Hauses ankamen, machte sie noch einen letzten Versuch, sich gegen die Macht ihres Schicksals aufzubäumen. Aber in ihren Händen war eine unüberwindliche Kraft, die sie den Schlüssel des Haustores aus der Tasche holen und mit einer runden Bewegung das Schloß öffnen ließ. Wir betraten die Halle. Es war wieder die alte Mächtigkeit. Sie atmete noch immer die Solidität, die nur aus Macht und Reichtum kommt. Die Eigentümer des neuen Hauses hatten es also tatsächlich wieder geschafft. Es gab nur eine Treppe in der neuen Halle. Wir stiegen hinauf und gelangten in den Flur mit einigen Türen. Bis jetzt war alles mit automatischer Zielstrebigkeit geschehen. Auf einmal war sie vorbei. Was tun, welche Türe öffnen? Ich stand unschlüssig in der Mitte des Flures, die Frau blickte mit leeren Augen auf mich. Es war, als hörte die Zeit auf, ich wüßte nicht zu sagen, ob Sekunden oder Jahre vergingen. Da öffnete sich eine Tür. Ein weißhaariger, nach vorne gebeugter, kraftloser Patriarch kam heraus, gefolgt von einer Frau. Er erblickte mich nur von der Seite, wußte in Sekundenbruchteilen, wer ich war, wurde grau, weiß, ein Nebel, ging huschend die Treppe hinunter, verließ das Haus. Die anderen Türen wurden geöffnet, aus allen kamen Gestalten heraus, teils meine ehemaligen Mitbewohner, teils Besucher des Hauses aus alter Zeit, alle glaubte ich zu kennen. Jeder erstarrte, erkannte mich unter Vermeidung, in mein Gesicht zu blicken, wurde grau, weiß, huschte die Treppe hinunter und verließ das Haus.

Nach einiger Zeit spürte ich, daß das Haus leer war. Es reizte mich nicht, durch die geöffneten Türen in die Zimmer zu blicken. Ich stieg die Treppe hinunter, trat aus dem Haus, schloß das Tor, verschloß es.

Ich habe seither meine Stadt und mein Land nicht mehr besucht. Ich habe erfahren, daß dort in letzter Zeit die Kräfte des Aufbegehrens wachsen und daß meine Stadt ein Zentrum der Freude, des Selbstbewußtseins, ja der Frechheit geworden ist. Die Bewohner der Stadt besetzen leerstehende Gebäude und sie treffen dabei auf keinen Widerstand. Die Bewohner der Stadt benutzen die Stadt zum Leben, sie kasteien sich nicht mehr vor den Besitzansprüchen jahrhundertealter Erbfolgen.

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