Als Gessica Beatrix L. MacGillian Thatcher, eine beinahe 76jährige britische Krimi-Autorin, in dem verschlafenen Küstendorf in Südengland, Hought-on-Even, für ihr 1587. Buch recherchierte, es sollte „Mord im Eismeer“ heißen, stellte sie verwundert fest, dass ihrer steinalten Freundin Marge Conway Woodling, die dort seit so vielen Jahren als Bürgermeisterin tätig war - Gessica hatte dies nicht gewusst - auf dem Festplatz eine große Ehre zuteil werden sollte. Marge sollte der Orden „Order of the Companions of Honour“ verliehen werden. Der blanke Neid knabberte an der Seele der Autorin. Nach ihrem 1500. Buch hätte sie doch nun wirklich einen Orden verdient gehabt.
Dieser Order of the Companions of Honour ist ein sehr hoher Orden des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth und wurde am 4. Juni 1917 von König Georg V. als Auszeichnung für herausragende Leistungen in den Bereichen Kunst, Musik, Literatur, Naturwissenschaften, Politik, Industrie und Religion gestiftet. Bewährten Politikern, die wie Marge Conway Woodling seit vielen Jahrzehnten ihrer Gemeinde vorstehen, ohne Fehl und Tadel ihren Dienst stoisch und eisern verrichten, wird sehr gern genau dieser Orden verliehen. Marge war nun, auf den Tag genau, seit exakt 44 Jahren Bürgermeisterin von Hought-on-Even. Kein Eklat und keinerlei Beschwerden seitens der fast 130 Einwohner, die Witwe Woodling hatte keine Skandale und auch keine Affären aufzubieten. Nebenher hatte sie einen kleinen Blumenladen geführt - und auch dies ist Gessica Thatcher nicht bekannt gewesen. In den letzten gut 45 Jahren hatten sich die zwei Damen nicht mehr gesehen.
Ein Aushang am Gemeindehaus hatte die recherchierende Krimi-Autorin davon in Kenntnis zu setzen gewusst: Heute um 14 Uhr würde die Verleihung stattfinden. Im Gemeindehaus. Darunter der Name und die Anschrift des Trägers des neuen Ordens (der nunmehr berechtigt war, vor seinen Namen ein „CH“ zu setzen; Gessica hätte gern gemordet für diese unfassbare Sonderstellung, ja, sie hätte sich sogar mit dem Esq. begnügt, aber leider hatte sie in dieser Hinsicht so rein gar nichts vorzuweisen) und ein Konterfei der Bürgermeisterin.
Gessica bemerkte, mehr zu sich selbst gesprochen: „Du bist ja ganz schön alt und runzlig geworden, beste Marge. Da sehe ich ja sogar noch besser aus. Und ich bin nun wirklich nicht von Mutter Natur übermäßig mit ansehnlichen Gaben beglückt und verwöhnt worden...“ Ein Blick auf die Armbanduhr. Es war kurz nach 13 Uhr. Sie war der Meinung, es dürfe nur eine Person geben, die die Bürgermeisterin zur Verleihung des hohen Ordens abzuholen das Recht hatte: Sie, die berühmte Krimi-Autorin, ohne jeden Orden! Schamröte durchzog ihr Gesicht.
Sie fand das Gässchen „Bishop Butt Close“ sofort und ohne Probleme, es grenzte an die Honeypot Lane. Und dort stand auch schon das schmucke Häuschen. Marge war schon immer eine Romantikerin gewesen. Vor dem kleinen Anwesen ein Schild: >Hier finden Sie die „Pennycomequick Mansion“. Sofern Sie einen freundlichen Charakter haben und kein Vertreter sind - treten Sie bitte ein! Tee und Gebäck warten auf Sie!<
Gessica betätigte die Türglocke. Ein merkwürdiges Geräusch drang an ihr geschultes Ohr. Ja, das war ein Nebelhorn. Bizarr. Es öffnete niemand. Gessica drückte nun die Klinke und öffnete die Tür. Knarzend gab sie den Blick frei auf eine Lobby. Und in der Wandelhalle lag ein Körper. Gessica sah sofort, um wen es sich handelte. Das war ihre alte Freundin Marge. Ein professioneller Griff an die Halsschlagader. Tot. Marge war mausetot. Und nach Gessicas Ansicht (Routine nach mehr als 400 Morden, bei deren Aufklärung sie schon mitgeholfen hatte) war Marge seit exakt 7 Stunden tot. Die volle Ausprägung der Leichenstarre war bereits erreicht worden. Sie rechnete zurück. Dann musste der Mörder so gegen 6 oder 7 Uhr früh zugeschlagen haben. Ihre Freundin trug einen Männerpyjama, Hauspantoffel und einen Morgenrock. Ganz offensichtlich war sie erdolcht worden, denn ein asiatisch aussehender Krumm-Dolch steckte in ihrer Brust. Gessica erkannte sofort, es war ein malaiischer Kris.
Sie wusste aus Erfahrung: Dies war ein Hang Tuah-Schlangenkris aus dem späten 15. Jahrhundert. Langsam zog sie ihn, unter einigen Schwierigkeiten, mühsam aus der Brust ihrer Freundin. Sie betrachtete den Kris. Eine wunderschöne Arbeit, ohne Zweifel ein echtes, antikes Sammlerstück. Sicherlich extrem wertvoll. Sie las eine kleine Aufschrift: Taming Sari. Damit konnte sie nichts anfangen. Von der Spitze des Dolches troff Blut auf die Leiche. Ach herrje eins, sie durfte doch hier, am Tatort, nichts anfassen. Vorsichtig steckte sie den Kris zurück ins angestammte Loch. Sie hatte versucht, nicht neben diese Öffnung zu stechen. Letztlich gelang es. Dann wischte sie das Heft ab. Äußerst zufrieden kam sie wieder hoch, blickte sich in der Lobby um.
Ihre irische Seele begehrte auf. Sie musste an Kilcleer in Irland denken, an das sich ihr langsam entfremdende County Cork, an die Provinz Munster. Hier gab es ja nur schottische Bezüge. Die schottische Flagge an der Wand, und darunter stand: In my defens God me defend! Ein Kilt an der Wand, schottischer Whisky auf dem Vertiko und jeweils ein Dudelsack in allen 4 Ecken. Das war für eine Irin nur schwerlich zu verdauen. Sie hätte jetzt gern einen irischen Whiskey getrunken. Der ist immerhin dreimal destilliert. Da kommt kein schottischer Whisky mit.
Sie hatte den breiten Lowland Scots-Akzent ihrer Freundin aus Studienzeiten sehr gehasst. Er war ihr so zuwider, dass sie sich nur selten mit ihr getroffen hatte. Ihres Wissens überhaupt nur höchstens 4 - 5 x. Eine wirkliche Freundin war Marge also eigentlich nie gewesen. In der Tat, sonderlich betroffen machte sie der Tod dieser Bürgermeisterin auch wirklich nicht. Sie ging ins Bad und wusch sich sehr ausgiebig die Hände, trocknete sie ab und stieg über die Leiche hinweg, um zum Ausgang zu gelangen. Da öffnete sich die Tür zum Anwesen Pennycomequick Mansion. Ein sehr alter Mann trat ein. „Wer sind Sie? Und was haben Sie mit Marge gemacht?“ Gessica Th. zog nun zum zweiten Male den Schlangenkris aus dem Oberkörper ihrer ehemaligen und nun leider toten Freundin, um sich zu verteidigen. „Ich frage eher Sie: Wer sind Sie?“ Drohend richtete Gessica den Dolch in Richtung des alten Mannes in voller Uniform eines Admirals, mit dem obligatorischen Dreispitz.
„Ich? Der Lord High Admiral Strother J. Hornblower jun., ich sollte die Verleihung des Ordens vornehmen. Das ist jetzt wohl hinfällig. Sie haben die Witwe Marge nämlich erdolcht, richtig?“ „Nicht richtig! Ich fand die Tote. Aber ich bin hier nicht für ihren Tod verantwortlich, Sir!“ „Legen Sie die Waffe ab und begleiten Sie mich zur Präfektur. In Ausübung meiner dienstlichen Pflichten gegenüber dem Königreich verhafte ich Sie, und verbringe Sie zur Polizeistation. Ihren Namen brauche ich, fürs Protokoll!“ „Ich heiße Gessica Beatrix MacGillian Thatcher!“ sagte die Autorin laut und selbstbewusst (und sie ist sich dessen bewusst, dass sie einen gewissen Bekanntheitsgrad in ganz England und dem Commonwealth besaß). Nahezu jeder, der lesen konnte, kannte sie auch. Der alte Mann wurde leichenblaß, führte mit den beiden Zeigefingern der alten, knochigen, spindeldürren, sehnigen Hände das Kreuzzeichen aus, zischte seltsam, wich zurück und rief:
„So bleibe mir bloß vom Hals, todbringende Vettel, du Succubus! Wo immer du auch auftauchst, gibt es Mord und Totschlag. Keine Stunde, nachdem du irgendwo deine Koffer abgestellt hast, aufgetaucht bist, sind vielfache Tote zu beklagen. Es bleibt ja niemals bei nur einem Toten. Und stets ist es Mord! Immer ist es Mord! Nein, wir alle wollen dich hier nicht, du Sensenfrau! Geh bloß weg. Und zwar weit weg!“ Der Alte echauffierte sich aber mal so richtig, kam gerade erst in Fahrt: „Was denkst du denn wohl, warum ich ausgerechnet hierher, ins total verschlafene Hought-on-Even, hier nach Südengland geflüchtet bin? Weil ich 100 Jahre alt werden will. Dazu fehlen mir nur mehr 6 Jahre, du Todesengel. Es gibt hier gerade mal knapp 130 Bürger. Und nicht eine schwarze Katze. Und jetzt das! Du bist hier. Schlimmer als 120 schwarze Katzen, die von links her meinen Weg kreuzen!
Ich lebte sehr friedlich mitten unter den friedlichen Bürgern hier. Und dann bist du gekommen! Die Nemesis! Das worst-case-scenario! Die menschliche Apokalypse! Mach dich vom Acker, Teuflin. Hau bloß ab, Gessica Thatcher. Und wage es nicht, jemals wieder hierher zurückzukommen! Du bringst nichts als Tod, Mord und Leid, Zwietracht und Meuchellust. Lass dich nie wieder hier blicken. Geh! Verschwinde, hörst du? Bleib uns allen vom Leib!“
Und so steckte Gessica wieder einmal den Kris an seinen angestammten Platz zurück und verließ deutlich schmollend das Pennycomequick Mansion. „Na, dann eben nicht...“ dachte sie genervt. Ich hätte den Mord in nur 45 Minuten aufzuklären gewusst. Diese Ignoranten! Selbst schuld. Dann nicht...
Beleidigt zog Gessica Thatcher von dannen. Später las sie im Herald, dass Marges Großneffe den Mord begangen hatte. Es war zwar auch eine unbekannte weibliche DNS am Heft des Schlangendolches gefunden worden, aber dadurch, dass dieser Mörder-Neffe vollinhaltlich geständig gewesen ist, konnte die Akte geschlossen werden. Der Urteilsspruch: Lebenslang für den Mörder, ohne jede Aussicht auf eine Begnadigung.
Zufrieden faltete Gessica den Herald zusammen. Wieder ein Mord aufgeklärt. Das war bereits der 412. aufgeklärte Mord mit ihrer Beteiligung. Eine unfassbare Quote. Sie würde ein Buch über diese Geschichte schreiben. Vielleicht würde sie dann ja endlich einmal einen Orden bekommen. Sie hoffte auf den CBE oder doch wenigstens den OBE. Ihr Blick fiel auf die Todesanzeigen. Schnell nahm sie den Herald wieder hoch. Und sie las: "Unser geliebter Ur-Opa, unser Großvater, unser Vater, Großonkel und Onkel ist heute von uns gegangen. Wir trauern um den beliebten und bekannten Bürger des wunderschönen Ortes Hought-on-Even, Lord High Admiral Strother J. Hornblower jun., Esq.! Ein berühmter Sohn dieser schönen kleinen Stadt, der nun friedlich neben der Bürgermeisterin, der Witwe CH Marge Conway Woodling, der Herr möge sich ihrer armen Seele erbarmen, zu ruhen pflegt."