Warum die Bäume nicht in den Himmel wachsen

Bild zeigt Dieter J Baumgart
von Dieter J Baumgart

Vor langer Zeit, als die Menschen noch nicht in großen Städten wohnten und noch keine Fernsehtürme bauten, da wuchs in einem schönen Wald auch ein Baum, der wollte größer sein als andere Bäume.

Schon bald überragte er alle anderen Pflanzen um viele Meter. Die Bäume um ihn herum waren traurig, weil sie keine Sonne mehr hatten. Auch der Regen verfing sich im dichten Laubwerk des großen Baumes und erreichte die kleineren Pflanzen nicht mehr. Langsam verkümmerten sie und gingen ein.
Der große Baum aber wuchs noch immer. Und bald war er höher als alle Berge im Umkreis. Seiner Größe entsprach auch das gewaltige Wurzelwerk im Boden. So fanden selbst die genügsamsten Pflanzen keine Nahrung mehr, und kein Samenkorn konnte sich entfalten.

Bald breitete sich um den großen Baum eine Wüste aus. Schon lange nisteten keine Vögel mehr in den Ästen, die Sonne brannte unbarmherzig, und kein Lüftchen kühlte die Blätter. Selbst die Regenwolken zogen vorbei, denn wegen eines Baumes lohnte es sich nicht zu regnen.

Es wurde sehr einsam um den Baum. Natürlich bemerkte er, daß um ihn herum alles öd und leer war, doch er suchte die Schuld bei den anderen. Der Neid auf seine herrliche Größe habe sie gepackt – meinte er. Im übrigen berauschte er sich an seiner Größe und fühlte sich als Mittelpunkt der Welt.

Da erschien eines Tages ein sehr großer, schwarzer Vogel am Himmel. Die Luft rauschte unter seinen Flügeln, und er setzte sich ganz oben auf den großen Baum und sprach:
„Du glaubst, du bist der Größte? Sieh, was du geschaffen hast: Eine Wüste um dich herum. Du hast den Kleinen die Sonne und den Regen genommen. Nun hast du die Sonne für dich allein. Aber ohne den Regen wirst du verdorren. Denn trotz deiner Größe bist auch du nur aus Holz. Du hast dich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Du hast vergessen, daß nicht nur die Kleinen auf die Großen, sondern auch die Großen auf die Kleinen angewiesen sind. Dein Leben war sinnlos, dein Tod wird niemand kümmern!“

Inzwischen hatte sich der Himmel verfinstert, und dickes Gewölk zog herauf. Der große schwarze Vogel breitete seine Flügel aus und verschwand in den Wolken. Wenig später fuhr ein mächtiger, gleißender Blitz in den Baum und zerfetzte ihn.

Als die Wolken sich wieder verzogen, erinnerte nur noch ein Häufchen Asche an den großen Baum.

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