In meinem Flur hängt ein gerahmtes Foto, eine Luftaufnahme vom Haus meiner Eltern, das nicht mein Elternhaus war, weil sie es nach meinem frühen Flüggewerden erst erbaut hatten.
An dem selben Tag, an dem meine Tochter auf Sardinien ihren ersten Schrei tat, fand auch der Umzug meiner Eltern von der Mietwohnung in der norddeutschen Stadt in ihr vom Munde abgespartes Haus auf dem noch freien Feld statt. Zudem schlüpfte genau zum Zeitpunkt des Möbeltransportes in der Dunkelheit des Möbelwagens ein „Hansi“ aus einem Ei, das viele „leere“ Vorgänger hatte, weil seine Eltern ein Kanarienweibchen und ein wohl eher verzweifelter Grünling waren, der aufgrund eines Beinchenbruches Aufnahme bei meiner Oma gefunden hatte. Meine Oma war Oma Anni, die für „uns“ den Haushalt „machte“, „Hansi“-verrückt war und in dem neuen Haus (von ihrer Rente mitfinanziert, wie sie gerne erläuterte) ein eigenes Zimmerchen (mit Waschnische hinter einem roten Vorhang) im Erdgeschoss bekam.
Dass dieses Zimmerchen ein Fenster zum Garten hinaus hatte, war ihr sehr angenehm, weniger aufmerksam fand sie, dass meine Vater ein Stückchen entfernt eine Tanne gepflanzt hatte, ausgerechnet eine, deren Spitze nicht gegen den Himmel wuchs, sondern sich impertinent-kontinuierlich dem Nachbargrundstück linker Hand zuneigte.
(Natürlich war meinem Vater beim Erwerb dieses Baumes seine Eigenart bewusst und er hatte ihn extra und genau vor ihr Fenster gepflanzt, „aus purer Bosheit“, denn siehe da, alle anderen Bäume hielten die von der Natur vorherbestimmte Wuchsrichtung ein …! Das war ihr zeitlebens ein sehr spitzer Dorn im Auge und trug zu ihrem Bluthochdruck nicht unwesentlich bei, wie ich vermute. Wie sehr, das sahen erst wir nach ihrem Tod, als von Stund an dieser Baum eine andere Ausrichtung fand und ebenso wie alle anderen Gewächse pfeilgrad dem Himmel zustrebte – ganz so, als zöge ihn jemand von dort an seiner Spitze nach oben.)
Weitere an dem Umzug beteiligte Personen waren meine Schwester und mein Bruder, die jung genug waren, jeweils ein eigenes Zimmer im 1. Stock zu beziehen (das Mädchen wohlweislich nicht über der Garage, die vielleicht einmal eine Einstiegshilfe darstellen könnte).
Meine Geschwister waren sogenannte Halbgeschwister, denn mein Vater war mein zweiter Vater, nachdem mein erster in meiner frühesten Kinderzeit verstarb, was auch den großen Altersunterschied von acht Jahren zwischen mir und meiner Schwester erklären hilft.
Auch sie folgten dem Ruf der Natur beziehungsweise dem Sachzwang der Marktwirtschaft und verließen im Laufe der Zeit das Nest, so wurden nacheinander die beiden Räume links und rechts des Elternschlafzimmers (mit nie genutztem Balkon zum Garten hinaus) leer und einer anderen Verwendung zugeführt.
Das Zimmer meiner Schwester wurde vor und nach dem Tod meines Onkels, Bruder meiner Mutter, der „vorübergehend“ einige Jahre nach einem erlittenen Schlaganfall dort einzog und von meinem Vater in seinem Ruhestand (den er sich auch anders vorgestellt hatte!) sehr fürsorglich gepflegt wurde (das Weihnachtsglöckchen nahm man ihm aber ab, nachdem er sogar nachts um zwei nach meinem Vater läutete, weil ihm der Lesestoff ausgegangen war und entsprechende Vorhaltungen bei ihm nichts fruchteten), zu so einer Art Hauswirtschaftsraum mit Bügelbrett, Nähmaschine und Radio.
Gleichzeitig stand in diesem Zimmer in einer Art Dachgaubennische zwischen zwei vollgepressten Kleiderschränken noch eine durchgelegene „Gästeliege“, ehemals Bettstatt meiner Schwester. Wenn man das Pech hatte, dort nächtigen zu müssen, nachdem die Berge von Decken und Kissen „abgetürmt“ worden waren und in einer anderen Zimmerecke vorübergehend wieder aufgetürmt, gab es nur eine Schlafstellung: auf dem sehr rund werdenden Rücken, denn das mittige Gefälle machte eine Lageveränderung während der Nacht unmöglich. Aber optisch war das Ding ja noch in Ordnung …
Als mein Bruder ebenfalls das Gelände räumte, um sich auf eigene Beine zu stellen (was besonders meine Großmutter sehr betrübte, denn nach ihrem dörflichen Verständnis war doch „der Junge“ der Gen-Weiterträger und schon deshalb, quasi naturgegeben, als viel wertvoller einzuschätzen als die holde Weiblichkeit, was sich bei ihr in einer besonderen Nestlingspflege ausdrückte), wurde sein Zimmer zum „blauen Salon“.
Dieses Adjektiv war in dem leuchtend blauen Teppichboden begründet und durchaus mit einem Augenzwinkern zu sehen. Dennoch war es eine Auszeichnung, dort nächtigen zu dürfen, denn dieses Zimmer beinhaltete nicht nur das ehemalige, jetzt deckenbehäufte, durchaus besuchergeeignete Bett (weil rückenschonender) meines Bruders in der gegengleichen Dachgaubennische plus der obligatorischen vollgestopften zwei Kleiderschränke (denn im Krieg hatte man gelernt, was es bedeutet, plötzlich ohne alles dazustehen und nur das nackte Leben in eine neue Umgebung zu tragen), sondern außer einem sehr bequemen, wenn auch quietschenden „Jugendbett“ nur noch sehr viel Raum zum freien Atmen. Kein Haselstrauch streichelte die Fenster, wie gegenüber, aber auch die Nachbarn, die nach meinen Eltern das ehemals freie Feld nach und nach mit ihren Häusern bepflanzten, hatten einen ausgesprochenen Hang zur Natur, und so war auch da das nächste Grün für das suchende Auge nicht sehr weit.
Vor dem Haus, zur Anwohnerstraße hin, gab es einen kleinen Alibi-Vorgarten. Leider lag diese Wetterseite stets im Schatten und so wuchs da nur Gras und Cotoneaster, der allerdings so üppig, dass mein gartenbegeisterter Vater mit der Zeit ein Holzgerüst gebaut hatte und den ursprünglichen Bodendecker auf diese Weise dazu gebracht hatte, sich entlang des Fundamentes bis zu den Fenstern empor zu arbeiten. Das dunkle Grün war herrlich anzusehen, wenn es von Blüten weiß gesprenkelt war, und vor allem im Herbst und Winter, wenn es mit seinen roten Beeren den Vögeln einen Notvorrat bot. Er beschnitt es regelmäßig, damit es nicht wucherte und so bot es einen malerischen Anblick, wie sich der weiß geklinkerte Teil des Hauses quasi aus einer Dornenhecke erhob.
Der Anteil Haus, der nicht weiß geklinkert war, war holzverkleidet, der Eingangsbereich zum Beispiel, und musste jedes Jahr von meinem Vater auf einer hohen Leiter von Hand neu lasiert werden, damit das Holz seinen saftig-dunklen Schimmer behielt.
Leicht gedreht erhob sich mit fünf Stufen aus sichtverdeckendem Gesträuch und Thujabäumen heraus von der Einfahrt her eine Waschbetontreppe zu einem ebensolchen Absatz vor der hölzernen Eingangstür, neben der eine Lampe hing, deren quadratische Milchglasabdeckung in schwarzen Ziffern die Hausnummer trug. Wenn spät noch Besuch erwartet wurde, blieb diese Lampe so lange beleuchtet, bis die Gäste das Haus sicher erreicht hatten, denn die Straßenbeleuchtung ließ zu wünschen übrig.
Auch, als meine Mutter nach dem Tod meines Vaters, durch das Alter halbblind geworden und als Unfallfolge stark gehbehindert, noch fünf Jahre allein in dem Haus geblieben war, leuchtete mir diese Lampe tröstlich den Weg, wenn ich freitags nach Büroalltag und weiteren fünf Stunden Autobahnfahrt (samt Wesertunnel) – und wie viele Male davon in blickdichtem Küstennebel – die stille Anliegerstraße und, davon abgehend, die Einfahrt ansteuerte.
Meine Mutter saß stets geduldig im hell erleuchteten Wohnzimmer auf ihrem Sofaplatz, über ein Buch oder ein Rätselheft gebeugt, die große Lupe in der Hand, und hörte, inzwischen schwerhörig, was sie starrsinnig leugnete („Ich hör noch sehr gut! Du brauchst nicht zu schreien!“), nicht mehr, wenn ich klappend, polternd, stöhnend, Gepäck verfrachtend die Haustür aufschloss, den Windfang betrat, durch die Tür im Windfang den Flur enterte und schließlich die Wohnzimmertür öffnete. Ganz erstaunt sah sie dann hoch: „Bist du schon da? Was schleichst du denn so leise? Ich hab dich gar nicht gehört …!“
Manches Mal stand ich samt Gepäck vor dieser von ihr in der alltäglichen Routine bereits abgeschlossenen Zwischentür, musste mein Handy hervorkramen und sie auf diese Weise von meiner Ankunft informieren. Ich fand das eher weniger als sie zum Kichern, nach so einer langen Autofahrt. Aber sie wartete darauf, dass ich ankam, es konnte ruhig elf Uhr nachts werden.
Dann schaltete ich das Außenlicht aus, wir saßen uns neben dem weiß gekachelten Kaminofen am Wohnzimmertisch gegenüber und tauschten erst einmal die Neuigkeiten der vergangenen Woche aus, die es nicht in unsere täglichen Telefonate geschafft hatten, einfach untergegangen waren oder sich im persönlichen Gegenüber leichter besprechen ließen.
Es konnte zwei Uhr nachts werden, bevor wir uns aufrafften, nach oben in die Betten zu steigen. Ich schlief dann, quasi Wand an Wand mit ihr, im blauen Salon und hörte sie noch lange ihre Gebete flüstern.
Wenn heute das Foto in meinem Flur mich zu sich ruft, sitzt für mich meine Mutter immer noch auf ihrem Sofastammplatz, das große Panoramafenster zum Garten im Rücken, über den hell erleuchteten Wohnzimmertisch gebeugt, lesend, Rätsel ratend, und wartet, dass sich die Wohnzimmertür öffnet und ich endlich wieder da bin für sie.
Egal, wie unser Verhältnis früher irgendwann mal war: Im gegenseitigen Altern schleifen sich manche Ecken rund – oder zumindest doch oval.
Die Tränen trocknet das nicht.
© noé/2017