Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand das Haus des alten Konrads. Er war ein einsamer Mann, seit seine Frau verstorben war. Oft saß er im Vorgarten, sah dem Alltag dabei zu, wie er verstrich. Es war eine ruhige Gegend. Kinder spielten auf den Straßen, nur hier und da schlich ein Auto durch die Landschaft. Wenn ein Fußball in den Vorgarten des alten Konrads flog, war es auch kein Problem ihn wiederzuholen. Er mahnte zwar jedes Mal, dass man aufpassen sollte keines der Fenster zu treffen, aber wirklich böse wurde er nie.
Eines Tages kickte ich tatsächlich den Ball über die Straße, direkt in eine seiner Scheiben. Auf seinem Gesicht lag kein Anflug von Ärger, er war eher erschrocken. Ich lief direkt auf die andere Straßenseite zu ihm und entschuldigte mich mehrmals. „Seid ein bisschen vorsichtiger“, sagte er. „Schauen wir mal, ob drinnen irgendwas kaputt gegangen ist.“ Er machte eine Handbewegung und zeigte mir damit, dass ich mit reinkommen sollte. Ich hatte etwas Angst, dass ich jetzt eine Ohrfeige bekommen würde, aber nichts dergleichen passierte.
Im Flur, der auf die Eingangstüre folgte, roch es ziemlich nach alten Leuten. Hier und da hingen Duftbäumchen, die dem Raum eine Lavendelnote gaben. „Dann sehen wir uns den Schaden mal an“, sagte er und ging nach rechts ab. Ich folgte ihm und hoffte, dass nicht viel kaputt gegangen war. Vor mir breitete sich ein Scherbenmeer aus, aus dem der lädierte Fußball ragte. Kleben könnte man das sicher nicht.
Das würde Ärger geben, dachte ich und stellte mir das Gesicht meines Vaters vor, wenn er erfahren würde, dass ich eine Scheibe kaputt gemacht hatte. Spätestens dann würde es eine Ohrfeige geben.
Als hätte er meine Gedanken lesen können, sagte der alte Konrad: „Keine Angst – deine Eltern erfahren nichts davon. Meine Versicherung zahlt das.“ Ich stieß ein erleichtertes Seufzen aus.
„Setz dich mal dort hin, ich hol kurz das Telefon.“ Ich setzte mich auf den zugewiesenen Stuhl. Konrad ging aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einer Scheibe Brot und einem Funktelefon wieder. Während ich das Brot aß, welches dick mit Fleisch belegt war, telefonierte der alte Mann mit seiner Versicherung und erklärte den Vorfall. Die Geschichte war erfunden, ich oder allgemein ein spielendes Kind kamen nicht darin vor. Nachdem er fertig war, legte er das Telefon zur Seite.
„Gut, dass du nicht fester getreten hast“, sagte er und ging an das Ende des Raumes. Eine hölzerne Kiste stand dort. Er strich über das dunkle Holz. „Das ist meine Gute-Erinnerungen-Kiste. Ich bewahre darin alles auf, was Glück in meinem Leben bedeutet.“ Die Kiste machte einen imposanten Eindruck. Ein altes, gusseisernes Schloss war daran befestigt. Ich fragte ihn, was darin wäre. „Verrat ich nicht“, sagte er grinsend. „Nun – du kannst wieder gehen; es ist alles mit der Versicherung abgeklärt.“
Ich ging allein zur Tür und gab meinen Freunden Tim und Lukas Entwarnung. Nichts änderte sich, wir kickten nur etwas vorsichtiger. Zumindest für einen Abend.
Dass der alte Konrad tot war, wussten wir schon vor allen anderen. Der alte Mann war seit Tagen nicht mehr aus dem Haus gekommen. Wir waren mittlerweile alle 15, 16, 17 und versuchten die Zeit in der Kleinstadt totzuschlagen. Mit ein paar Dosen Bier bewaffnet saßen wir abends am Schrottplatz, während die Sonne am Horizont unterging. Augen hatte niemand dafür. „Der alte Konrad ist tot. Ich wette, verdammt“, sagte Tim. „Kann sein.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Lass uns reingehen“, meinte Tim. „Einbruch?“, fragte Lukas und er sah etwas besorgt aus. „Komm schon“, gab ich hinzu. „Was soll passieren?“
Wir diskutierten noch kurz und schließlich schlichen wir gegen Mitternacht zum Haus. An der Seite war ein Fenster gekippt und ein süßlich-schwerer Geruch strömte heraus. Mit ein paar Handgriffen öffnete Tim das Fenster. Ich wusste nicht, woher er wusste, wie das ging, aber fragte auch nicht weiter.
„Wer will zuerst?“, fragte Tim grinsend. „Du Lukas?“ „Ok, ok.“ Er ging zu dem Fenster, sprang und zog sich an dem Fensterrahmen nach oben. „Starrt mir nicht auf den Arsch.“ „Seh ich aus wie'n Homo?“, gab Tim zurück. „Du siehst aus wie ein Spast.“ Ich grinste. Tim ging als zweiter und ich kam als letzter nach. „Wo ist der Lichtschalter?“, fragte ich, während ich an der Wand herumtastete. „Bist du behindert? Was ist, wenn uns wer sieht?“
Tim zog sein Smartphone heraus und leuchtete uns den Weg. Das war anscheinend das Schlafzimmer. Im schummrigen Licht wirkte die Umgebung irreal und falsch. Seit meinem letzten Besuch hatte sich nicht viel geändert. Tim öffnete die Tür und wir gingen auf den Flur. „Shit“, sagte Tim, der vorgegangen war. „Was ist los?“ Tim sagte nichts, sondern leuchtete mit dem Smartphone bis zum Ende des Flurs. Dort lag der alte Konrad bäuchlings, etwas verkrümmt. „Herzinfarkt vielleicht“, sagte Lukas. „Shit“, wiederholte Tim. „Glaubt ihr, der hat hier irgendwo Geld?“, fragte er nach einiger Zeit. „Du willst ihn beklauen?“ „Als ob er's noch brauchen würde.“ „Lasst uns abhauen“, sagte Lukas. Ich erinnerte mich an die Kiste von der er immer gesprochen hatte und war versucht, sie zu öffnen. „Komm schon – was soll passieren?“ „Ich bin raus, ich will da nicht mitmachen“, sagte Lukas und verschwand. Wir reagierten gar nicht. Wenn er nicht wollte, wollte er eben nicht.
Nacheinander zogen wir Schubladen auf und durchsuchten sie. Immer mal wieder fanden wir kleinere Beträge, manchmal ein paar Scheine. Die D-Mark-Scheine und Münzen ließen wir einfach liegen. Am Ende des Flurs, kurz vor der Leiche, trennten wir uns. Tim nahm sich das Wohnzimmer vor und ich ging in das Arbeitszimmer, in dem auch die Kiste stand.
Ich wollte unbedingt wissen, was dort war, was er dort verstaut hatte. In all den Jahren hatte ich es nicht vergessen. Die Kiste ließ sich mit wenig Mühe herausziehen, sie war nicht besonders schwer. Ich sah nach dem Vorhängeschloss, aber es war wider Erwarten offen. Es hing nur lose in der Vorrichtung.
Langsam öffnete ich die Truhe, strahlte mit meinem Smartphone auf den Inhalt. Was ich fand, ließ mich fast erbrechen. Ich sah Kinderfotos, nackte Kinder, alte und neue Bilder, alle beim Anziehen oder Ausziehen in ihren Zimmern fotografiert. Da! Das Zimmer kannte ich. Das war Tims Zimmer und Tim war darauf abgebildet. Angewidert schüttelte ich den Kopf. Bald darauf fand ich auch Lukas und mich selbst. Es gab von jedem Kind mehrere Bilder.
Es schmerzte mich, mich dort zu sehen, irgendetwas zerbrach in mir. Das Gefühl wollte ich niemandem antun, niemand sollte das erfahren, aber jeder musste wissen, was für ein Mann der alte Konrad gewesen war. Ich griff in die Kiste, schob den Stapel zusammen und zog die Bilder heraus. „Was gefunden?“, ertönte es hinter mir. Eilig steckte ich die Bilder in die Tasche meiner Jogginghose und schloss dann die Kiste. „Hier gab's nichts.“ „Hab drüben noch zwei Fünfziger gefunden.“ Ich nickte, auch wenn Tim es im Dämmerlicht wahrscheinlich nicht sehen konnte. „Wir sollten langsam gehen.“ „Ok, wir gehen durch die Vordertür – ich kann das Fenster von außen nicht wieder schließen.“ Tim ging ins Schlafzimmer und schloss das Fenster. Danach stiegen wir beide über die Leiche, öffneten die Haustür und schlichen uns vom Grundstück. Die Fotos in meiner Hosentasche wogen schwer, aber ich hatte trotzdem das Gefühl das Richtige getan zu haben. Wir teilten das Geld, trennten uns nach kurzer Zeit und gingen beide zurück nach Hause.
Möglichst leise ging ich in mein Zimmer und setzte mich aufs Bett. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, was hätte passieren können, als ich dort gewesen war.
Ich schämte mich als meine Famile eine knappe Woche später von der Polizei darüber informiert wurde, dass einige Nacktbilder von mir gefunden worden waren. In der Zeitung wurde groß über den Vorfall berichtet. Eine halbverweste Leiche, Fotos von einem nackten Kind. Der ganze Fall wurde mehr ausgeschlachtet, als das Massaker im Forschungszentrum.
Zumindest wurde mein Name nicht genannt. Tim kam vorbei. Lukas war wenige Tage zuvor in Urlaub gefahren. „War die Polizei bei dir?“ „Nein, bei dir?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. Natürlich kannte ich die Antwort, schließlich hatte ich alle Fotos mitgenommen, außer die von mir selbst, um dem alten Konrad den Ruf zu geben, den er verdient hatte. Den eines perversen, pädophilen Voyeurs.
„Glück gehabt. Hatten wohl einen Schutzengel.“ Etwas lag in seiner Stimme, dass mir sagte, dass es eine unglaubliche Last gewesen wäre. Es war mir ja selbst unglaublich unangenehm, niemand sollte dieses Gefühl haben. „Schutzengel? Ja, vielleicht.“
Noch am selben Abend verbrannte ich die Fotos im Garten.