Der Asteroid - Page 5

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von Daniel G. Spieker

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der kleinen Familie und mir wurde klar, wie anonym ich hier gelebt hatte. Den Vater hatte ich mal gesehen, aber die Kinder? Die Großeltern? Die Mutter? Ich konnte mich nicht an sie erinnern. Von allen Wohnungen – meiner eingeschlossen – schien das die beste Option. Sie war groß, gemütlich und die Vorräte würden ausreichen. Nur dass sie im Erdgeschoss lag, bereitete mir Kopfzerbrechen. Trotzdem legte ich mich in eins der Kinderbetten, da ich von dort aus den Eingang sehen konnte, und legte die Pistole auf den Nachttisch. Dann erinnerte ich mich – eine Person hatte sich gewehrt. Eines der Kinder. Es hatte sein Stofftier behalten wollen. Ich wusste nicht, wie ich reagiert hatte. Ich wusste nicht einmal, was für ein Stofftier es gewesen war. Warum wusste ich das nicht? Hatte ich mir das eingebildet? Wie konnte ich das nicht wissen? Wie war das möglich?
Ich zog die Decke über meinen Kopf, weinte, und schlief irgendwann ein.

6

Am nächsten Tag kontrollierte ich erst den Keller und dann die Wohnungen im Erdgeschoss, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. Schließlich ging ich nach oben und blieb wieder auf dem Treppenabsatz stehen, bevor ich zu meine Wohnung betrat. Irgendetwas zerbrach in mir, als ich sah, dass Lindas Leiche weg war. Ich durchsuchte die ganze Wohnung, das komplette Haus, aber sie war nirgendwo. Ich räumte sogar die Sachen am Eingang weg und schaute um das Haus herum – wo war sie? Wie konnte sie weg sein? War sie gar nicht tot gewesen? Ich stand am Hauseingang und schüttelte den Kopf. Das war verrückt – irgendjemand musste sie mitgenommen haben, aber das war unmöglich. Warum sollte jemand mir so etwas antun?
Ich verbarrikadierte die Eingangstür und ließ an jedem Fenster des Hauses die Rollläden herunter – sofern es welche gab. Alle anderen vernagelte ich. Ich hatte es nicht einmal geschafft, ihre Leiche zu beschützen. Wie war das möglich? Völlig paranoid ging ich wieder und wieder und wieder durch das Haus, schaute in jeder Ecke nach, horchte auf bei jedem noch so kleinen Geräusch auf, aber hier war niemand. Es musste passiert sein, als ich die ersten Wohnungen geräumt hatte – aber ... warum sollte jemand eine Leiche klauen?
Es waren sicher zwölf Stunden vergangen, als ich anfing, meine Situation einfach zu akzeptieren.

7

Ich zog wenige Tage später in den obersten Stock. Nach und nach holte ich alles, was ich brauchte aus den Zimmern des Erdgeschosses. Schlussendlich blockierte ich die Treppe mit einem Bett und einer Couch. Ich hatte aus der Wohnung der Familie Dutzende von DVDs und aus einer anderen Wohnung einen Laptop, der nicht passwortgeschützt war, und ein paar Powerbanks mitgenommen. Irgendjemand wollte wirklich, dass ich die nächsten Wochen und Monate so gut wie möglich verbrachte. Ich schlief lange, aß und dann schaute ich einen Film auf dem Laptop. Meistens irgendwelche Disney-Klassiker. Es war das beste Leben, das noch möglich war. Ich dachte viel über Linda nach und ging im Kopf immer wieder durch, was ich hätte machen können.
Jeden Morgen strich ich einen Tag im Kalender durch und jeden Tag kam ich dem Ende ein Stückchen näher. Trotzdem fühlte es sich für mich nicht an, als würde wirklich Zeit vergehen.

Eines Nachts wurde ich wach. Es war kurz vor Weihnachten und ich hörte ein Klopfen an der Zimmertür. Es hatte wenige Momente gedauert, bis ich realisiert hatte, dass das nicht sein konnte. Niemand durfte im Haus sein. Ich schnappte mir meine Pistole und eine Taschenlampe. „Wer ist da?“, rief ich.
Keine Reaktion. Und dann klopfte es nochmal, diesmal von oben. Ich rannte nach oben und durchsuchte das gesamte Stockwerk, aber hier war niemand und es war nicht möglich, dass sich die Person, die hier war, irgendwie an mir vorbei wieder nach unten geschlichen hatte. Mehrmals rief ich, aber es gab nicht den geringsten Hinweis, dass jemand hier gewesen war.
Nach einigen Stunden entschied ich, dass ich es mir eingebildet hatte. Hier konnte niemand sein. Vielleicht war etwas heruntergefallen … trotzdem, ein schaler Nachgeschmack blieb zurück.
Die nächsten Tage blieb ich verschont.
Mein letztes Mal Weihnachten feierte ich mit einer Flasche Wodka und draußen schien es zu schneien, zumindest würde das die Kälte erklären. Kein Monat mehr. Dann würde alles vorbei sein. Es machte mich nicht traurig oder glücklich oder sonstiges – es war völlig neutral. Eine Geschichte nimmt ihr Ende. Ich wollte eigentlich nicht mehr leben – ich wollte auch nicht sterben, also ließ ich es einfach auf mich zukommen. Dieser Asteroid würde alles enden lassen.

8

In der Nacht auf Silvester klopfte es wieder. Ich wachte wieder auf und durchsuchte das Haus, aber diesmal hörte es nicht auf. Als ich alles kontrolliert hatte, fing es wieder an, ich lief wieder los, dann öfter, immer öfter. Überall klopfte es, sogar an den Fenster. Es war, als wäre die ganze Welt gekommen, um an das Haus zu klopfen.
„Hört auf!“, schrie ich. „Hört auf! HÖRT AUF!“
Ich rannte schließlich hoch zum Dach, weil ich keinen anderen Ausweg mehr sah, schlug die Tür hinter mir zu und das Klopfen erstarb. Die Sonne blendete mich, ich war seit Wochen nicht mehr draußen gewesen. Hier lag Schnee und ein rauer Wind wehte, aber es war besser als diesem Klopfen ausgesetzt zu sein. Ich setzte mich in eine windstille Ecke und wartete dort einfach, schlief und wartete. Ich aß nichts, ich trank nichts mehr. Ich wollte mir keine Decke oder irgendetwas anderes holen, ich wollte nicht mehr zurück in das Haus.
Und schließlich sah ich ihn. Den Asteroiden. Ein Punkt am Himmel, der größer und größer und größer wurde.
Auf den Straßen sah ich niemanden mehr – wo waren die Leute? Ich schlief nur noch oder schaute zum Himmel. Irgendwie stellte es mich zufrieden, zu wissen, dass ich bald sterben würde. Bald wäre es eben vorbei.

Die Wissenschaftler waren genau gewesen, der Asteroid würde wohl am errechneten Termin diese Welt zerstören. Ich blieb einfach wach und wartete. Das waren meine letzten Momente. Ich saß im Schneidersitz da und sah wie sich der Asteroid Stück für Stück vergrößerte.

Der Himmel verdunkelt sich – er ist kaum noch auszumachen. Ich kann deutlich den Stein sehen. Seine Konturen, einzelne Krater darauf. Es ist wie eine zweite Erde, nur völlig verwüstet. So wie die Erde bald aussehen wird. Es wird warm – das bisschen Schnee, das hier liegt, schmilzt. Ich sitze da und lächle, warte auf das Ende.

Ich bekomme eine Gänsehaut, er kommt näher, näher und näher. Aber dann …

Der riesige Komet rast vor meinen Augen vorbei und ... verschwindet im Himmel.
Er hat sein Ziel verfehlt. Er hat sein Ziel verfehlt. Er hat sein Ziel verfehlt. Ich kann nicht einmal mehr blinzeln. Auf einmal liegt die ganze Angst der Welt auf mir. Ich höre wieder Geräusche auf der Straße, höre wieder Menschen. Die Welt atmet auf und in mir zerreißt etwas.
Langsam stehe ich auf und starre nach unten und aus dem Müll, aus den Wohnungen, aus den Nebenstraßen, von überall her kommen Menschen.
Und alle sind Linda und laufen auf mich zu. Jetzt wird sie mich holen. Jetzt würde sie mich bestrafen, dafür, dass ich sie im Stich gelassen hatte. Jetzt würde es enden.
Ich schwitze und in mir zieht sich etwas zusammen. Ich übergebe mich, aber da ist nichts in mir.

Es ist der 8.1.2021. Der Tag, an dem ich mich erschieße.

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Hörbuchversion von Der Asteroid
Noch mehr von der Persönlichkeit → Daniel G. Spieker