Im Hause meiner Mutter gab es ein Phänomen.
Wenn ich sie besuchte, in ihren letzten Jahren, ein bis vier Wochenenden im Monat, schlief ich im ehemaligen Zimmer meines Bruders, Wand an Wand mit meiner Mutter.
Meine Mutter lag nebenan im Schlafzimmer auf ihrer Seite des Ehebettes, immer nur auf ihrer Seite, obwohl regelmäßig auch die Seite meines verstorbenen Vaters frisch bezogen wurde.
Wir beide waren Nachteulen, besonders freitags, wenn ich nach einem Bürotag und fünf Stunden Fahrt abends um 10 oder 11 Uhr bei ihr ankam. Sie hatte die Außenbeleuchtung extra brennen lassen, damit ich die Einfahrt finde und sie wartete auf mich, wie lange es auch dauerte.
Sie saß auf ihrem Platz auf dem Sofa, nach vorne über den Tisch gebeugt, das Zimmer hell erleuchtet, das Panoramafenster zum Garten im Rücken, mal verdunkelt, meistens nicht. Sie hatte ihre große, beleuchtete Leselupe in der Hand und las entweder in einem ihrer populärwissenschaftlichen Bücher oder verzwickten Krimis oder löste tief versenkt endlose Kreuzwort- oder Silbenrätsel.
Ihr Gehör war schlecht geworden, so dass sie jedes Mal ganz erstaunt aufsah, wenn ich das Wohnzimmer betrat, egal, wie sehr ich vorher mit meinem Gepäck und den Schlüsseln im Flur auch rumort haben mochte: „Nu, du bist ja so leise! Man hat gar nischt gehört …“
Wir hatten lange und sehr schwierige Jahre hinter uns, in denen wir uns nicht besonders grün waren, aber das Alter oder die Reife hatten Kanten rundgeschliffen, und so schien es tatsächlich, dass sie sich freute, wenn ich kam, jedenfalls leuchtete sie von innen, wenn sie mich über ihre Brille ansah.
Ich ließ mich ihr gegenüber in „meinen“ Sessel fallen und dann ging die Erzählerei los. Zwischendurch sichtete ich die Sachen, die sie bei ihren diversen Lektüren „gefunden“ und „für mich“ beiseitegelegt hatte, immer auf eine bestimmte Stelle auf dem Zweisitzer, der an der Schmalseite des Tisches stand.
Meistens erzählte ich, denn bei ihr passierte nicht mehr viel. Ihre Sicht war sehr schlecht und ihre Beine waren in zwei Jahren fast ununterbrochenen Krankenhausaufenthaltes zwar wieder in Ordnung gekommen, dennoch war sie so unsicher auf diesen Beinen und Geschäfte sowieso zu Fuß nicht erreichbar, dass sie selbstständig nirgendwo mehr hinging.
Selbst in den großen schönen Garten, der ganze Stolz meines Vaters und seine Zuflucht, ging sie nur, wenn einer von uns da war oder ihre Putzhilfe, also fast nie. Mein Vater hatte einige sehr intelligente Einbruchs-Erschwernisse angebracht, das war ihr immer zu viel Pfriemelei. Die eine Seite des Fensters, die sich öffnen ließ, die versah sie schon mal mit dem Fliegengittereinsatz, aber das war es auch schon.
Ohne Rollator hätte sie sowieso nicht mehr lange gehen können und in der ersten Zeit nach dem Krankenhaus und dem Tod meines Vaters bewegte sie sich auch zuhause damit im unteren Stockwerk vorwärts. Sie nutzte den Tablettaufsatz, Dinge von hier nach da zu transportieren, denn zum Beispiel der große Kühlschrank stand nicht in der Küche, der stand in „Omas Zimmer“, dem Zimmer, das ihre Mutter bis zu ihrem Tod bewohnt hatte.
Ach, ich merke schon, es gäbe jetzt so viele Stränge, auf denen ich weitererzählen könnte – aber ich wollte ja auf etwas Bestimmtes hinaus.
Also, meistens kamen wir nicht freitags ins Bett, sondern erst samstags, denn selten unterbrachen wir den Austausch von Neuigkeiten vor 1 oder 2 Uhr nachts. Dann stiefelte sie nach oben ins Bad und, wenn sie fertig war, rief sie nach unten, dass ich jetzt rein könne.
Inzwischen begab sie sich in ihr Bett – und war dann aber noch nicht schlafbereit, denn dann „musste“ sie erst beten. Und sie hatte viel zu beten. Jeden einzelnen der ihr Lieben musste sie dem lieben Gott einzeln ans Herz legen. Und das war ihre größte Sorge: „Was passiert denn mit denen, für die ich noch nicht gebetet habe, wenn ich vor Müdigkeit plötzlich einschlafe …“ Da war es ihr eine große Erleichterung, als ich spontan eine Lösung parat hatte: „Mama, fang doch einfach SO an: ‘Lieber Gott, du weißt doch schon, für wen ich immer bete. Wenn ich einschlafe, bevor ich fertig bin, sorge doch bitte du für sie und beschütze sie.‘ “
Also, wenn ich im Bad endlich fertig war, war meine Mutter immer noch murmelnd dabei, jeden einzeln Gottes Schutz anzubefehlen, manches Mal hörte ich sie noch wispern, wenn ich – nur durch eine Wand getrennt – im Besucherbett noch etwas lesen wollte.
Wenn ich dann auch endlich das Licht ausmachte und es eigentlich stockfinster hätte sein sollen, dann musste ich öfter die Augen noch einmal irritiert öffnen, um zu kontrollieren. Aber es war wirklich keine Lampe mehr angeschaltet. Trotzdem kam von „hinten“ her, also von hinter meinem auf den Kissen ruhenden Kopf, ein heller Schein, etwa so, als stünde da ein Regal und in dem Regal ein größeres Aquarium mit seiner milden Aquariumsbeleuchtung. Und dieses meinen Kopf umhüllende glimmende Licht konnte ich nur sehen, wenn ich meine Lider schloss, bei geöffneten Augen war alles so finster, wie es zu sein hatte.
Dieses Phänomen hielt auch nach dem Tod meiner Mutter noch an. Es dauerte etwas, bis alles reguliert war und ausgeräumt und das Haus an neue Besitzer übergeben, weshalb ich noch einige Zeit an den Wochenenden im Besuchszimmer schlief. Und immer war da dieser sanft leuchtende Schein hinter meinem Kopf und immer nur, wenn ich die Augen geschlossen hielt.
Ich bilde mir ein, dass das etwas mit den Gebeten meiner Mutter zu tun hatte …
© noé/2015 Alle Rechte bei der Autorin
Kommentare
Liebe Noe, ja dieser feine Schein, den man bis in die Seele hinunter fühlt ... dies hast du fein geschrieben, ein Genuß hier inne zu halten! Herzlichen Dank, ganz liebe Grüße!
Liebe Noe, ja dieser feine Schein, den man bis in die Seele hinunter fühlt ... dies hast du fein geschrieben, ein Genuß hier inne zu halten! Herzlichen Dank, ganz liebe Grüße!
Es gibt den Schein, ein leichtes Licht -
Nur seh'n ihn viele Menschen nicht...
LG Axel
Gedanken scheinen oft zu scheinen,
was wir als Schein zu sehen meinen.
Gruß
Alf