Die 1.000.000 Pfundnote

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Mit siebenundzwanzig Jahren bekleidete ich in San Francisco eine Stelle auf dem Kontor eines Minenmaklers, und hatte mir dabei eine gründliche Kenntnis dieses Geschäftszweiges nach allen Richtungen erworben. Ich stand allein auf der Welt und nannte nichts mein eigen als meinen gesunden Verstand und einen steckenlosen Ruf; doch hatten sich diese beiden Güter mir bisher als kräftige Stützen auf meinem Wege zum Glück erwiesen, und so schaute ich frohen Mutes in die Zukunft.

An den Sonnabenden hatte ich den Nachmittag für mich und brachte diese freie Zeit meist auf dem Wasser zu, indem ich mich in einem kleinen Segelboot in der Bucht herumtummelte. Dabei wagte ich mich eines Tages zu weit hinaus, so daß ich in die offene See getrieben wurde. Schon brach die Nacht herein und meine letzte Hoffnung begann zu schwinden, als mich eine kleine Brigg, die auf ihrem Weg nach London vorübersegelte, an Bord nahm.

Sie hatte eine lange, stürmische Fahrt, und ich mußte das Reisegeld als gemeiner Matrose abverdienen. In zerlumpten, abgeschabten Kleidern stieg ich in London ans Land, einen einzigen Dollar in der Tasche, Diese Summe verschaffte mir Nahrung und Obdach für die ersten vierundzwanzig Stunden. Die folgenden vierundzwanzig dagegen verbrachte ich ohne diese schätzenswerten irdischen Güter.

Müde und hungrig schleppte ich mich am folgenden Morgen – es mochte etwa zehn Uhr sein – an Portland-Place vorüber, als ein Kind, das an der Hand seiner Wärterin des Weges kam, eine köstliche große Birne, die es eben erst angebissen hatte, in den Rinnstein fallen ließ. Ich machte natürlich sofort Halt und heftete meinen begehrlichen Blick auf diesen schmutztriefenden Schatz. Der Mund wässerte mir, mein Magen bäumte sich, jede Faser an mir lechzte danach. Aber so oft ich Miene machte, nach der Birne zu greifen, jedesmal bemerkte das Auge eines Vorübergehenden mein Vorhaben; natürlich richtete ich mich dann stets wieder kerzengerade auf und nahm eine gleichgültige Miene an, als hätte ich überhaupt niemals im entferntesten an diese Birne gedacht. So ging es immer und immer wieder, und ich konnte derselben nicht habhaft werden. Bereits hatte meine Verzweiflung einen solchen Grad erreicht, daß ich allem Schamgefühl zum Trotz im Begriffe stand, die Birne ganz offen aufzuheben, als hinter mir ein Fenster aufging und ein Herr die Worte an mich richtete:

»Bitte, kommen Sie hier herein.«

Ein reich galonierter Lakai ließ mich ein und führte mich in ein kostbar eingerichtetes Zimmer, in welchem zwei ältliche Herren saßen. Nachdem sie den Diener weggeschickt, forderten sie mich auf, Platz zu nehmen. Sie waren eben erst mit ihrem Frühstück fertig geworden, und der Anblick der Überreste desselben ging fast über meine Kräfte. Ich vermochte kaum meine fünf Sinne zusammenzuhalten, während ich diese Herrlichkeiten da vor mir stehen sah; da man mich jedoch nicht aufforderte, davon zu kosten, so mußte ich mich eben in meine üble Lage fügen so gut es ging. Der Vorgang, der sich hier kurz zuvor abgespielt hatte, blieb mir selbst zwar noch geraume Zeit völlig unbekannt, dem Leser dagegen will ich denselben gleich jetzt mitteilen. Die beiden Brüder hatten am Tage vorher einen ziemlich heftigen Disput gehabt, den sie ganz nach Landessitte schließlich in Form einer Wette beilegten.

Man erinnert sich vielleicht, daß die Bank von England seinerzeit einmal bei Gelegenheit eines Geschäftes, das die Regierung mit einer auswärtigen Macht abschloß, eigens nur zu diesem Zwecke zwei Noten von je einer Million Pfund Sterling ausgab. Aus irgend einem Grunde war nur die eine der beiden Noten hierbei gebraucht und dann entwertet worden, während die andere noch in den Gewölben der Bank lag. Nun waren die beiden Brüder im Laufe des Gesprächs ganz zufällig auf die Erörterung der Frage verfallen, wie es wohl einem durchaus ehrlichen und gescheiten Fremden ergehen würde, der in London auftauchte, ohne daselbst einen Menschen zu kennen, zugleich ohne allen weiteren Geldbesitz außer dieser Millionenbanknote und endlich ohne die Möglichkeit, sich über deren Erwerb auszuweisen. Bruder A. behauptete, der Betreffende müsse einfach Hungers sterben, während Bruder B. durchaus entgegengesetzter Meinung war. Bruder A. machte geltend, derselbe könnte ja die Note weder bei der Bank noch sonstwo anbringen, ohne auf der Stelle festgenommen zu werden. In dieser Weise stritten sie so lange hin und her, bis Bruder B. sich schließlich bereit erklärte, zwanzigtausend Pfund darauf zu wetten, daß der Fremde dreißig Tage lang unfehlbar von der Millionen-Note leben könne und zwar ohne ins Gefängnis zu kommen. Bruder A. nahm die Wette an, worauf Bruder B. sich ohne Verzug nach der Bank begab und die Note kaufte. Echt englisch, wie man sieht: geradeswegs forsch aufs Ziel los! Er ließ sodann von einem seiner Angestellten einen Brief in schöner Rundschrift dazu ausfertigen, und nun warteten die beiden Brüder am Fenster einen ganzen Tag lang auf einen Vorübergehenden, der danach aussähe, als käme bei ihm das inhaltschwere Schriftstück in die richtigen Hände.

Es kamen viele ehrliche Gesichter vorüber, die aber nicht gescheit genug aussahen; ebensoviele, bei denen das Umgekehrte der Fall war, viele wiederum, bei denen beides zutraf; aber diese waren dann entweder nicht arm genug oder, wofern auch dieses stimmte, doch keine Fremden. Stets hatte die Sache irgend einen Haken, bis ich auftauchte. Bei mir hatten beide sofort den Eindruck, daß sämtliche Erfordernisse in vollem Umfang erfüllt seien; die Wahl war demnach einstimmig auf mich gefallen, und da saß ich nun und harrte der Eröffnung, wozu man mich eigentlich hereingerufen habe. Zuvörderst hatte ich ein eingehendes Examen über meine persönlichen Verhältnisse zu bestehen, infolgedessen sie bald genug mit meiner ganzen Geschichte bekannt waren; das Ergebnis ging dahin, ich sei ganz der richtige Mann für ihr Vorhaben. Ich erwiderte, das sei mir höchst erfreulich, ich bitte mir nur sagen zu wollen, worin dieses bestehe. Hierauf behändigte mir der eine der beiden einen verschlossenen Briefumschlag mit dem Bemerken, darinnen sei die Erklärung enthalten. Ich wollte den Umschlag ohne weiteres öffnen, allein dies ließ er nicht zu; ich solle denselben nur mit nach Hause nehmen, den Inhalt aufmerksam ansehen und dann mit vollem Bedacht und ruhiger Überlegung handeln. Einigermaßen verdutzt meinte ich, es wäre mir doch lieber, wenn die Sache etwas genauer erörtert werden könnte, sie ließen sich jedoch nicht

Veröffentlicht / Quelle: 
Mark Twain, Die 1.000.000 Pfundnote und andere humoristische Erzählungen und Skizzen, Max Hesse Verlag, Leipzig

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