Mein Vater war ein wohlhabender Deutscher mit Leib und Seele. Er hat gelitten, weil seine Ahnen nicht nach Amerika, sondern nach Russland auswanderten. Ein Jahrzehnt verbrachte er auf der Flucht vor Stalins Schergen, dann fast sieben Jahre im Gulag hinter dem Polarkreis und lebte danach unter Aufsicht der Kommandantur, immer in der Angst verhaftet zu werden, bis ans Ende seiner Tage. Als viele Russlanddeutsche aus Angst kein Deutsch sprachen, wurde dank Vater in unserem Haus ausschließlich deutsch gesprochen. Es wurden deutsche Bräuche gepflegt, deutsche Lieder wie „Lindenbaum“ oder „Schön ist die Jugend“ und viele andere gesungen, es kam kein russisches Essen auf den Tisch. Vater hasste die rote Farbe der Kommunisten. Ich verwarf den Gedanken, meinen Vater zu verteidigen. Nicht vor diesem Arzt, vor allem, nicht vor diesem Menschen.
Mein Vater behandelte aufgeschlagene Kniee und Beulen mit selbst angefertigtem Arnika-Wodka-Aufguss. Er kurierte Husten mit Anistropfen und Schröpfgläsern. Mutter züchtete extra Aloe, mit dem Saft, versetzt mit Honig, Butter und Kakao, bekämpfte sie erfolgreich meine schlimme Lungenentzündung. Die Aloepflanze heilt Geschwüre und Sanddorn-Öl war die Königssalbe bei Verbrennungen höchsten Grades. Leider hatten auch meine Eltern kein Heilmittel gegen Zahnschmerzen. Sie verloren kontinuierlich ihre Zähne und ich war auf dem gleichen Wege. Mit Anfang dreißig verlor ich mehrere Zähne. Wegen mangelnder Aufklärung und Pflege, der Angst vor Narkosemitteln, gingen die Menschen nicht zum Zahnarzt, bis der Zahn nicht mehr zu retten war. Die Zahnärzte waren gut ausgebildet, aber ihnen standen keine guten Mittel zur Verfügung.
Eine junge Zahnärztin lernte ich in Kasachstan kennen, von der ich gern dem deutschen Kollegen erzählt hätte. Sie behandelte meine Paradontitis mit Aloe und Vitamin B-Spritzen. Mit einem dünnen Watteschnürchen, das sie in eine Lösung – dem Geschmack nach etwa Kamille – tauchte und zwischen die Zähne zog wie Zahnseide. Nach ein paar Stunden wurde es entfernt. Die Sitzung wurde ca. zwei Wochen lang täglich wiederholt. Das ist lange her. Ich habe weder ein Antibiotikum noch Cortison bekommen. Und über zehn Jahre lang, bis zur Übersiedlung nach Deutschland, keine Beschwerden gehabt und keinen Zahn verloren. Auch das konnte ich dem Zahnarzt mit der Antipathie gegen Russen nicht mitteilen. Ich versuchte, mich auf dem Nachhauseweg zu beruhigen und zu vergessen. Das ist mir wohl bis heute nicht ganz gelungen, denn ich schreibe darüber.
Homöopathie mit Antipathie (2)
von Lena Kelm
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