Die Ladentür öffnete sich, mit einem Klingeln. In Fabian verkrampfte sich etwas. Innerlich angespannt, zwang er sein faltiges Gesicht zu einem Lächeln, während er seine rechte Hand unter der Ladentheke, auf seine .357 Magnum legte. Er hasste Waffen, doch seit er diesen Spirituosenladen führte, war er unzählige Male überfallen worden. Irgendwann hatte er sich den Sechs-Schüsser angeschafft. Und ein paarmal, hatte er damit schon schießen müssen. Auch wenn er immer bemüht gewesen war, niemandem das Leben zu nehmen, hatte er einen Räuber, der seinen Laden im Sommer ’77 überfallen hatte, so ungeschickt getroffen, dass dieser seine Beine nie wieder bewegen konnte. Es war ein Junge gewesen, 17 Jahre alt. Er hatte auf ein Kind geschossen und hasste sich dafür, aber damals hatte er Todesangst gehabt. Der Bursche musste einen schweren Preis, für seine jugendliche Dummheit zahlen. Für so etwas, hatte Fabian Deutschland nicht verlassen. Er hatte vergessen wollen, doch hier erinnerte ihn alles an den Krieg. Jeden Tag. Sobald er die Magnum nur ansah, musste er an die ganzen Züge denken, die an seinem Elternhaus vorbei, zum Lager fuhren. Züge voll mit Juden, Zigeunern und Schwulen. Jeder einzelne von ihnen ein Mensch. Jeder einzelne genau so kostbar, wie er, vielleicht sogar noch kostbarer. Alle waren sie dort zum Sterben hingeschickt worden. Nein, nie wieder wollte er sich daran erinnern, doch dieser Todbringer in seiner Hand, brannte mit jeder Berührung, die Erinnerungen tiefer in seinen Verstand. Irgendwann hatte er es kapiert. Es ist ein Naturgesetz, wo immer Menschen existieren, tun sie sich gegenseitig Leid an. Aus demselben niederen Grund, aus dem er auch jetzt den Revolver hielt. Aus Angst vor dem Unbekannten und der Unfähigkeit, einander zu vertrauen. Doch New York war ein hartes Pflaster, hier bekam man schnell Angst. Erst vor ein paar Tagen, war in der 42. Straße, ein alter Verkäufer, fast so alt wie Fabian, bei einem Überfall auf einen Drugstore, erschossen worden. Keine Drohung. Keine Warnung. Die Maskierten waren reingekommen und hatten ihm ins Gesicht geschossen und genau so würde er es tun. Er würde auf das Gesicht des Räubers zielen, um dort einen tödlichen Schuss zu platzieren. Er war einfach zu alt für diesen Job. Doch seit sein Enkel da war, schob er den Ruhestand auf. Vielleicht würde es ja reichen, damit Johnny sein Studium, auch als Vater fortsetzen könnte und hoffentlich nie, nie, nie, in einem Drugstore oder Spirituosenladen arbeiten müsste. Immer eine zitternde Hand, auf der Magnum unterm Tresen. Der Mann, der in den Laden trat, war genauso alt wie Fabian, vielleicht ein bisschen älter. Entspannt lag Fabians Hand nun auf dem Revolver. Der Mann begrüßte ihn freundlich. Fabian meinte, einen Deutschen Akzent zu hören, den er sich aus Scham, schon vor Jahren abgewöhnt hatte. Da hatte er alle seine Anstrengung reingesteckt und tatsächlich, klang seine Stimme mittlerweile so, als hätte er schon sein ganzes Leben in New York gelebt. Sein Kunde nahm eine Flasche Kanadischen Whisky, ein Sixpack Budweiser und kam damit auf Fabian zu, mit der Absicht zu bezahlen. Er stellte alles auf den Tresen und griff in seine Manteltasche. Für einen Moment, verkrampfte sich Fabians Hand über der .357 und er zitterte innerlich, in der festen Erwartung, gleich dem Tod, in Form einer Handfeuerwaffe, ins Auge zu blicken. Doch der Mann zog nur sein Portemonnaie, das ihm dabei durch die ungeschickten, alten Finger glitt. Als er es aufhob, rutschte sein linker Ärmel nach oben und entblößte fünf tätowierte Ziffern. Jakob. Vor ihm stand Jakob und diesmal war kein Stacheldraht zwischen ihnen. Der kleine jüdische Junge von damals, war groß geworden. Und alt. Ohne die Nummer, hätte Fabian ihn nicht erkannt, doch jetzt war er sich sicher, das war der Junge, der damals am Zaun stand.
Der kleine Junge stand vor ihm. Zwischen zwei Barracken, die ihm Sichtschutz vor den kalten Blicken, aus den Wachtürmen boten. Sein Vater, der örtliche Bürgermeister, hatte ihm, Fabian, verboten sich den Stacheldrahtzäunen zu nähern. Also war er in seiner kindlichen Naivität, erst recht hingegangen. Im Sichtschatten der Barracken, sah er nun diesen Jungen und fragte ihn: „Wie heißt du?“ Blutleere Lippen formten den Namen „Jakob“ und dann erzählte Jakob Dinge, die schlimmer waren, als alles was Fabian jemals erwartet hätte. Jakob hob sein Arm und zeigte eine fünfstellige Zahlenfolge. „Sie markieren uns wie Vieh!“ Auf einmal wusste Fabian, wieso ihm sein Vater verboten hatte, hier zu spielen. Er wusste, dass er heute Nacht schreckliche Albträume haben würde. Trotzdem konnte er nicht anders, als Jakob zu beten, am nächsten Tag wieder an den Zaun zu kommen. So trafen sie sich wieder und Fabian hatte Jakob, ein paar belegte Brote mitgebracht, die er beim Frühstück eingesteckt hatte. Während Jakob von den scheußlichen Dingen berichtete, die sich hinter dem Zaun abspielten, aß er und aß, denn der Hunger war mittlerweile größer als der Ekel. In den nächsten Wochen erfuhr Fabian immer mehr, von der tödlichen Grausamkeit des Nationalsozialismus. Mit seinen heimlichen Rationen, schaffte er es, Jakob so lange am Leben zu erhalten, bis die Amerikaner kamen. Als sie mit ihren Panzern kamen und das Lager befreiten, wollte Fabian zu Jakob, doch sie ließen ihn nicht durch. Dann war er weg. Nach ein paar Jahren, gab er die Hoffnung auf, von Jakob kontaktiert zu werden und ging endlich fort.
Jetzt stand Jakob vor ihm und war alt geworden. „Sie kommen mir bekannt vor.“ sagte er plötzlich. „Wollen sie mir nicht verraten, wie sie heißen?“ Hatte Jakob ihn wieder erkannt? „Fabian“ sagte Fabian, voller Erwartung. Jakob wurde nachdenklich. „Hm. Der Name sagt mir nichts.“ Dann lächelte er wieder. „Ich habe sie wohl verwechselt.“ Eine tiefe Trauer überkam Fabian. Jakob hatte ihn vergessen, oder hatte er doch die Nummer verwechselt? Ja, das musste es sein! Vor ihm stand jemand, der die Shoa überlebt hatte, aber es war nicht Jakob. Also gab Fabian dem Mann, stumm sein Wechselgeld zurück und ließ seine Gedanken, weiter über seinen alten Freund kreisen. Als Jakob aus dem Laden trat, winkte er ein Taxi herbei. Während der Fahrt, musste er immer wieder an den Verkäufer denken. An wen erinnerte ihn dieses Gesicht? Es war alt und faltig, hatte offenbar viel Leid gesehen, genau wie sein eigenes. Vielleicht an jemanden aus dem Lager? Trauma bedingte Amnesie, hatten die Ärzte gesagt und alle waren sie der Meinung, dass er dafür dankbar sein konnte. Doch jetzt hätte er gern gewusst, an welcher dumpfen Erinnerung in seinem Unterbewusstsein, dieses Gesicht kratzte. Denn zwischen den ganzen Falten, dem Blutunterlaufenen, trüben Grau, der alten Augen, lag etwas unglaublich vertrautes. Ein gnädiger Ausdruck, der Wiederstand leistet, gegen eine Gefühlskalte Welt. Ja, etwas vertrautes, etwas freundliches, wie im Gesicht, eines guten Freundes.
Ein vertrautes Gesicht
von Kerim Mallée
Bibliothek
Mehr von Kerim Mallée lesen
Interne Verweise
- Autorin/Autor: Kerim Mallée
- Prosa von Kerim Mallée
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Historisch