Meer der Tränen

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von Anita Zöhrer

Wann immer die Menschen sich einander bekriegten, stritten oder sich auf eine andere Art und Weise Leid zufügten, tropften Tränen des Schmerzes in jenes Meer, das den Namen Meer der Tränen trug. Es befand sich in einem Land, wo Zauberwesen beheimatet waren. Wesen, die die Menschen liebten und sich über jedes Glück von ganzem Herzen freuten. Gab es jedoch Kummer, verspürten sie diesen vielfach heftiger als die Betroffenen selbst es taten.

Eines Tages wurde die Not der Menschen dermaßen groß, dass nur mehr Klagen und Trauer unter den Zauberwesen herrschten. Tief berührt von den Qualen seines Volkes beschloss der Zauberling, engster Vertrauter und Berater des Königs, einzugreifen und alles Böse aus der Welt der Menschen zu schaffen. Er allein hatte die Macht dazu, doch es war ihm verboten. Dieses Verbot wollte er nun umgehen – aus Liebe zu seinen Freunden.

Wie Regen ergossen sich die Tränen der Zauberwesen in das Meer der Tränen, dessen Wasserspiegel unaufhörlich stieg. Mit feuchten Augen stand der Zauberling davor und atmete tief durch. Das einst kristallklare Blau des Meeres hatte sich in ein dunkles Rot gefärbt. Es spiegelte das Blut wider, dass die Menschen vergossen. Blut, das aus ihren Körpern aber auch aus ihren Herzen floss.

„Verzeih mir, mein König. Es muss sein“, sprach der Zauberling leise und hob seine Arme.
„Er dürfe den Menschen ihren freien Willen nicht nehmen“, hatte die Verordnung des Königs gelautet. Trotzdem sah der Zauberling keinen anderen Ausweg, als genau das zu tun. Wie sollte sonst Friede zwischen den Menschen einkehren, wenn sie es von sich aus nicht wollten?

Ein Portal, das in die Welt der Menschen führte, erschien am Himmel. Ein Sturm kam auf und hob einen Wasserstrudel aus dem Meer empor. All die Tränen der Zauberwesen machten sich auf, um die Menschen zu übergießen und alles Schlechte in ihnen zu vernichten.

Der Zauberling schloss seine Augen und beobachtete, wie Krieg und Streit endeten und einer reinen Liebe wichen. Hass und Ausgrenzung wurden den Menschen fremd. Niemand beneidete mehr den anderen. Jeder Mensch gewann seine Würde durch sein Menschsein und nicht durch das, was er leistete oder besaß.

Das Meer leerte sich und als auch der letzte Tropfen Wasser aus dem Land der Zauberwesen verschwunden war, schloss sich das Portal wieder. Der Zauberling senkte seine Arme und erblickte in der Ferne, wie zwei seiner Freunde sich stritten. Entsetzen erfüllte ihn. Das Böse hatte sich nicht einfach in Luft aufgelöst, wie er es erwartet und erhofft hatte. Es hatte sich durch das Portal Eintritt zu den Zauberwesen verschafft und löste in diesen Gefühle aus, die sie noch nie zuvor kennengelernt hatten.

Sogleich rief der König sein Volk zusammen, um es zu warnen. Den Menschen war ihr freie Wille genommen, dafür hatten seine Untertanen ihn nun erlangt. Dadurch war aber auch ihr Leben in Eintracht in Gefahr. Umso wichtiger war es, dass sie sich ihre Werte bewahrten und sich von allem Schlechten nicht ins Unheil stürzen ließen.

Der Zauberling war am Boden zerstört. Er saß am einstigen Ufer des Meeres und weinte. Das vollkommene Glück hatte er sich für seine Freunde gewünscht, doch noch weiteres Verderben hatte er über sie gebracht. Nur ein schwacher Trost war es für ihn, dass er den Menschen das Paradies auf Erden ermöglicht hat.

Die Menschen waren schwach gewesen, die Zauberwesen waren es jedoch nicht. Wider die schlimmen Befürchtungen des Zauberlings blieben Katastrophen zwischen seinen Freunden erspart. Zwar empfanden sie ebenso Zorn und Verlangen nach Gewalt wie einst die Menschen, doch im Gegensatz zu diesen blieben sie stark. Trotz der Fehler, die passierten, bewahrten sie den Frieden untereinander und sorgten, dass es ihnen allen weiterhin gut erging.

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