Reminiszenzen I
Schattenspiele
Hallo, alter Freund. – Du erlaubst, daß ich dich so anrede? Wir kennen uns ja nun schon recht lange –, ich meine, nach meinen Maßstäben. Du siehst das wahrscheinlich etwas anders. Es ist seltsam; meine früheste Erinnerung an dich ...
Die Zweige entlaubter Bäume – ich glaube, es waren Linden – werfen filigrane Schatten auf den Gehweg. Granitwürfel, grau und blau, sorgfältig in bogenförmige Muster gesetzt, gelegentlich von notdürftig reparierten Flächen oder Sandlöchern unterbrochen. Hier und da verblichene Kreidestriche von Hüpfekästchen, dazwischen herabgefallene dünne Zweige. Im Umkreis der Gaslaterne verblassen die Schatten der Zweige, verschwinden ganz, dann überholt mich mein eigener Schatten, wird schwächer, und schließlich sind es wieder die unbewegten Schattengewebe der kahlen Zweige. Die Bäume stehen dicht an dicht. Nur manchmal eine größere Lücke. Dann finden sich aufgeschichtete Backsteine zu beiden Seiten, Mörtelreste schimmern weißlich. Am Boden liegt ein durchlöcherter alter Wollhandschuh. Es ist still. Aber die Scherze, die Seufzer der Frauen hängen noch in der Luft, wie der unverwechselbare Geruch der Steine nach kaltem Rauch. Meine Schritte höre ich nicht; ich laufe auf Kreppsohlen, die gebrauchten Schuhe aus dem CARE-Paket. Ich bleibe stehen, lausche – nichts. Ich gehe zurück. Jetzt habe ich auch abseits der Laternen einen eigenen Schatten. Er geht stetig vor mir her, saugt das Muster der Zweige auf. Bis zur nächsten Laterne: Wenn er ganz verblaßt ist, kommt der andere wieder von hinten, überholt mich, wird lang und länger, verschwindet. Schattenspiele. Ich wende mich wieder um, bleibe stehen und lausche. Ich höre Schritte, aber es sind andere, nicht die, auf die ich warte. Dann endlich – klick klick klick klick, manchmal ein ‘kilack’, wenn der dünne Absatz von der Kante des Granitwürfels in die Fuge abgleitet.
„Dieter, warum läufst du noch hier draußen rum? Hast du Schularbeiten gemacht?“ Ja – nein. Aber ich sage nichts.
Jetzt sind es zwei Schatten, die uns an den Laternen überholen. Gleich sind wir zu Hause. Die Klinken der Zimmertüren werden sich nicht mehr von selbst bewegen. Hinter der Riffelglasscheibe der Küchentür werden mich keine Gesichter erschrecken. Irgendwie werde ich meine Schularbeiten machen.
Reminiszenzen II
Pierre und Emily
Unmerklich erst, dann immer klarer, trennt silbriger Schein Emilys Silhouette vom sternenbesetzten Himmel; Vorbote deiner Reise über das Firmament, über unser Dorf, von Horizont zu Horizont. Auf nächtlichen Spaziergängen begleitest du uns, lauschst den Geschichten der Hunde, die von den Ereignissen des Tages erzählen. Manchmal denke ich dann zurück, an die Schattenspiele auf dem Gehweg, Granitsteinmuster in grau und blau ...
Ich erinnere mich, auch damals hat dir ein Hund Geschichten erzählt, nächtelang, ein großer gelber Schäferhund, der ein Garagengrundstück in unserer Straße zu bewachen hatte. Dann verschwanden die Garagen und auch die Häuser, und Trümmerfelder säumten die Straße. Der Hund – nein, es gab nichts mehr zu erzählen. Damals ...
Viel ist inzwischen geschehen. Vieles, sehr vieles hat sich verändert. Du bist der gleiche geblieben. Wir haben dich im Fernsehen ganz aus der Nähe gesehen, mit dem Teleskop deine Krater betrachtet – und doch, ja, ich bin ganz sicher, so wie jetzt bist du mir am liebsten, am vertrautesten. Damals schon, vor mehr als einem halben Jahrhundert, als deine Schattenspiele mir halfen, die Angst des Alleinseins zu überwinden, hast du auch die bizarren Felsgestalten hier in silbriges Licht getaucht; unsere steinernen Nachbarn, Pierre und Emily und die anderen. Manchmal denke ich, du hast damals schon gewußt, daß du uns hier begleiten wirst. Ja, ich bin sicher, du weißt, wie dieser Weg weitergeht. Denn überall, wo wir noch hinkommen, bist du schon gewesen. Ich werde dich nicht fragen, aber es ist schön zu wissen, daß du es weißt.