Tahiti

Bild von Fernand Muller-Hornick
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Fernand Muller-Hornick
38, Montée Willy Goergen
L-7322 Steinsel
muller_hornick@yahoo.de

In zwei Tagen wird Havemann seinen Ruhestand antreten. Seine Arbeitskollegen werden ihm die Hand drücken und alles Gute wünschen.
"Genieße das Leben, so lange du es noch hast", wird der Decker sagen und dabei wieder einmal als Einziger über einen seiner dummen Sprüche lachen.
Wenn Havemann ehrlich sein soll, himmelhochjauchzend ist er nicht über den nun bevorstehenden Ruhestand. Zu einem gewissen Teil freut er sich schon, nicht mehr jeden Morgen um exakt dieselbe Zeit aufstehen zu müssen um den ganzen Tag einer monotonen Arbeit nachzugehen. Andererseits bot die Büroarbeit trotz aller Eintönigkeit dennoch eine gewisse Daseinsberechtigung, zumindest täuschte sie das Gefühl vor, wichtig für den Betrieb zu sein. Zu Hause wird Havemann vor dem Fernseher hocken, zum vierten Mal die Wiederholung der Wiederholung von einem uralten Heimatfilm über sich ergehen lassen, seiner Frau beim sticken zusehen. Mädchen mit Blumenvase. Mittenwald im Herbst. Sonnenaufgang über dem Zillertal. Alpenglühen mit Edelweiß. Laacher See im Morgendunst. Mädchen mit Halskette. Winterlandschaft mit Schneemann im Vordergrund. Home Sweet Home.
"Irgendwann ist kein Platz mehr frei, wo ich noch ein Bild aufhängen könnte", stöhnt Havemann jedes Mal, wenn seine Frau wieder ein Kunstwerk vollendet hat. Aber dann wird er das Bild doch wieder in einen Rahmen fassen und in der Stube, oder im Flur aufhängen. Im Schlafzimmer sind auch noch ein paar Plätze frei. Hauptsache, seiner Frau macht es Spaß.
"Irgendwann werden wir ein größeres Haus kaufen müssen", meint Havemann lachend.
"Dafür sind wir zu alt, leider. Den Rest unserer Jahre werden wir wohl hier verbringen müssen", antwortet seine Frau und fügt hinzu: "Leider".
"Man hat noch so viel vor", seufzt Havemann, "aber die Zeit läuft einem davon".
Havemann träumt seit Jahren von der Südsee. Schuld ist ein Bild, das seine Frau vor vielen Jahren gestickt hat. Nave Nave Moe, von Paul Gauguin. Immer wieder schaut sich Havemann dieses Bild an, wünscht sich weit weg von allem, nach der Sonne, einem weißen Strand, einem immer blauen Himmel. Es wäre eine willkommene Abwechslung vom alltäglichen Trott. Samstags fahren sie nach Daun einkaufen, Früher wanderten sie Sontags um das Weinfelder Maar, seit seiner Frau zuliebe, sie war verrückt nach dieser Totenstille, dieser Melancholie, wenn die Nebelschwaden im Herbst alles in Watte einhüllen. Die Seelen der Toten würden die Lebenden in die Dunkelheit hinab ziehen, man könne ihnen nicht entfliehen, sagte seine Frau immer.
Die Nerven, Depressionen, diagnostizierten die Ärzte damals, verschrieben Medikamente, verdienten sich reich an Havemanns Frau.
Havemann erträgt alles geduldig, damals wie heute. Woher er die Kraft nehme, fragten sich die Nachbarn, und die Verwandten am Anfang. Letztere kommen seit Jahren nicht mehr zu Besuch, jeder hat genug andere Sorgen, um die er sich kümmern muss.
"Die Meinung der Leute kann uns egal sein. Hauptsache, wir haben uns", sagt Havemann immer wieder zu seiner Frau, jeden Tag, seit Jahren, wenn sie beisammen sitzen, abends, in der Stube, wenn seine Frau stickt und er sich die Wiederholungen im Fernseher anschaut.
"Ja", antwortet seine Frau, manchmal antwortet sie auch nicht.
Havemann kann sich ein Leben ohne seine Frau nicht vorstellen. Das Leben wäre völlig sinnlos und unwichtig. Früher war alles anders, irgendwie. Seine Frau war zwar nie eine große Rednerin gewesen, keine, die ihm, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kam, den Kopf mit Belanglosigkeiten vollquasselte. Sie kannten sich seit ihrer Schulzeit, besuchten dieselbe Klasse, sassen nur drei Bankreihen auseinander und waren damals bereits unzertrennlich. Ihre blonden Zöpfe baumelten beim Laufen hin und her, das gefiel Havemann besonders. Und ihre leuchtenden, blauen Augen. Überhaupt gefiel ihm alles an ihr, sonst hätte er sie wohl kaum geheiratet, später, als er seine Berufsausbildung abgeschlossen und eine Anstellung als Buchhalter in einem großen Möbelhaus gefunden hatte. Havemann liebte zwar keine Zahlen, aber es war immerhin ein mehr oder weniger sicherer Beruf, Möbel werden schließlich immer gebraucht, oder fast immer.
Havemann wäre lieber Forscher geworden, jemand, der ferne Welten bereisen kann, Geologe, Ethnologe beispielsweise, aber das waren nach Ansicht seiner Eltern Traumberufe, die Geld kosten anstatt dass man Geld für seine Arbeit bekommt. Havemann erfüllte somit die Wünsche seiner Eltern, hockte jeden Tag in einem Büro mit drei anderen Buchhaltern, und stellte sich vor, wie schön es wäre, irgendwo einer fernen Südseeinsel auf dem Strand zu sitzen und zu träumen.
Träume sind Schäume, meinte seine Frau stets, wenn er wieder einmal zu spinnen anfing. Sie wünschte sich ein geregeltes Leben, ein Haus, im Grünen, mit Garten und Terrasse, Kinder, zwei oder drei, vielleicht auch vier.
Der Traum von Kindern, oder auch nur einem einzigen, blieb ein Traum. Lag es an seiner Frau, oder an Havemann, diese Frage blieb ungeklärt, die Ärzte meinten, seine Frau, oder beide.
Die Krankheit kam schleichend, plötzliche Unlust, irgendwas zu arbeiten, irgendwo hin zu gehen, und sei es nur, einkaufen. Stimmungsschwankungen seien ab einem gewissen Alter normal, hieß es, vielleicht hängt es mit den Wechseljahren zusammen, oder mit der Kinderlosigkeit, Frauen sind manchmal komplizierte Wesen. Havemann besorgt von da an die Einkäufe, füllt die Waschmaschine, manchmal bügelt seine Frau, aber eher selten.
Havemanns Frau stickt. Der Arzt hat es ihr empfohlen, sticken soll gut für die Seele sein, warum, erklärt er nicht.
Früher, vor der Krankheit seiner Frau, waren sie noch jedes Jahr mindestens einmal in Urlaub gefahren, meistens an den Gardasee, oder den Lago Maggiore, er und seine Frau liebten Italien. Aber plötzlich war alles anders, seine Frau stickte nur noch, ging nicht mehr aus dem Haus, das Dasein wurde immer trübseliger, auch für Havemann. Allein irgendwo hin zu gehen, hatte er keine Lust, seit über zwanzig Jahren hatten sie immer alles gemeinsam gemacht, zusammen verreist, gelacht und geweint, wie die Unzertrennlichen, diese Papageienart. Was soll Havemann allein irgendwo?
Dass er sie los lassen soll, sie sei ja doch nur eine Belastung, sagt seine Frau am Abend, wo er seien Kollegen und die Kollegen ihm die Hand zum Abschied gedrückt haben.
"Kommt gar nicht in Frage", wehrt Havemann ab. ."Wir gehören zusammen, das sind wir immer gewesen und werden es bis ans Ende unseres Lebens bleiben."
Seine Frau lässt nicht locker, bittet ihn immer wieder darum. Was er denn vom Leben habe, nichts, und nur wegen ihr, sie käme schon allein zurecht.
Havemann schüttelt den Kopf, mehr kann er dazu nicht sagen.
"Wir werden nach Tahiti fahren", sagte Havemann. "Wir werden den ganzen Tag am Strand in der Sonne liegen, die Füsse ins warme Wasser stecken, wie auf dem Bild von Gauguin: Mahaha no atua, wir werden das Leben genießen, du wirst sehen, alles wird gut".
"Wie sollen wir das denn machen, nach Tahiti fahren", möchte seine Frau wissen, "das kostet doch ein Vermögen".
"Ganz einfach. Tahiti kommt zu uns", sagt Havemann und weist auf ein in braunes Papier gepacktes, großes Etwas.
"Was ist das?", fragt seine Frau.
"Unser Traum", antwortet Havemann.
Seine Frau schüttelt den Kopf. Manchmal redet ihr Mann nur Blödsinn.
"Du wirst sehen", sagt Havemann.
Das Bild zeigt einen Strand, braune Frauen in bunten Kleidern. Mahaha no atua,
"Schön", sagt seine Frau, "aber nur ein Bild.
"Wir werden es im Schlafzimmer aufhängen, uns ins Bett legen und träumen, du wirst sehen, es gefällt dir. Wir werden alles um uns herum vergessen", sagt Havemann und hängt das Bild an der Wand gegenüber vom Bett auf.
"Machen wir", sagt seine Frau, "gemeinsam werden wird alles überstehen".
"Genau", antwortet Havemann, "wir haben uns, und unseren Traum von Tahiti. Wir werden ihn gemeinsam träumen und erleben."
"Tahiti ist schön" sagt seine Frau und schaut sich das Bild genau an.
"Genau", bestätigt Havemann und nimmt seine Frau in den Arm, während sie im Bett liegen.
"Unseren Traum kann uns niemand wegnehmen", sagt seine Frau.
"Niemand", bestätigt Havemann erneut, reicht seiner Frau ein Glas Sekt, nimmt sich ebenfalls ein Glas.
"Prost, auf Tahiti und unseren unerfüllten Traum", sagt Havemann.
"Prost", sagt seine Frau, stösst mit ihrem Mann an, beide trinken das Glas leer.
"Nun wird alles gut, gleich werden wir in Tahiti sein", sagt Havemann und drückt seine Frau fest an sich.
"Ich spüre die Wärme schon", sagt seine Frau.
"Das ist die Sonne von Tahiti. Gleich wird dir noch wärmer", sagt Havemann und spürt, wie die Wärme auch in ihm hochsteigt. Bald werden sie einschlafen, für immer, und in Tahiti aufwachen, da ist sich Havemann sicher.