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Loch im Boden, wie der Alltag in der Fabrik aussieht. Die Maschinen lassen ein wahrnehmbares Vibrieren durch die Fabrik gehen. Hecktisches Treiben erfüllt die lichtdurchflutete Halle unter ihnen. Es dauert nicht lange, da stürmt der Vater wutentbrannt an den Maschinen vorbei und staucht einen der Arbeiter zurecht. Der Bruder, schon von seinem Triumph überzeugt, blickt die Schwester fragend an. Die aber wiegelt nur ab, der Arbeiter habe ja auch schlecht gearbeitet und es sei nur richtig, ihn dafür zu strafen. So geht es weiter. Sie beobachten einen Wutausbruch nach dem anderen, aber die Schwester weiß jedes mal eine Rechtfertigung für den Vater zu finden.
Als es Feierabend ist und die Fabrik zur Ruhe kommt, richtet sich der Bruder verbittert auf. Er ist der Verzweiflung nahe. Es muss an diesem Tag klappen, er hält es sonst nicht mehr aus zu Hause. Da fällt sein Blick auf einen Stuhl und ein Seil, das an einem Balken befestigt ist. Er fasst neuen Mut. Wenn er seiner Schwester zeigen könnte, wie der Vater jede Kontrolle verliert und nur noch zu schlägt, dann würde sie so erschrecken, dass sie gar nicht anders könnte, als den guten Charakter des Vaters anzuzweifeln. Er wird noch einen Wutanfall über sich ergehen lassen, denkt er, vielleicht den schlimmsten, aber dann wird es vorbei sein. Er würde sich und seine Familie vom Joch des Tyrannen befreien. Seine Schwester würde dem Vater ins Gewissen reden können, nur sie würde eine solche Veränderung beim Vater bewirken können. Er wickelt das Seil ein gutes Stück vom Balken ab, holt Seil sowie Stuhl und redet aufgeregt und viel zu schnell auf seine Schwester ein. Sie müsse sich nur das Seil um den Hals legen und auf den Stuhl setzen. Sobald er mit dem Vater wiederkäme, sollte sie aufstehen und sagen, ihr Bruder habe sie zum Spielen hier herauf geschickt. Dem Vater würde er zu Hause erzählen, er habe gesehen, wie die Schwester nach Feierabend in die Fabrik gegangen sei, davon aber sagt er seiner Schwester nichts. Der Vater würde natürlich seiner Schwester eher glauben als ihm und davon ausgehen, er habe ihn angelogen. Das Seil um den Hals würde den Vater dazu noch glauben machen, dass die Schwester sich in Gefahr befinde. Das musste ihn dazu bringen die Kontrolle zu verlieren. Er würde einfach nicht mehr an sich halten können. Dann würde der Vater besinnungslos auf ihn einprügeln, vor den Augen seiner Schwester. So malt sich der Bruder den Ablauf aus, während er seiner Schwester noch zeigt, dass das Seil mehrere Meter lang sei und sie deshalb nicht zu befürchten brauche, dass etwas passieren könne. Danach macht er sich auf, den Vater zu holen.
Die Tochter willigt mürrisch ein, auch sie will den Streit um den Charakter des Vaters endgültig beenden. Sie setzt sich gerade auf den Stuhl und streicht über ihren Rock, während der Bruder ihr das Seil um den Hals legt. Als er hinausgeht, lächelt sie ihm spöttisch hinterher. Sie hat Mitleid mit ihrem Bruder, nur deshalb hat sie sich überhaupt auf diesen Besuch eingelassen. Der Vater weiß sowieso, dass sie ihn durch den Dachboden beobachtet haben. Bevor sie aufbrachen, hat sie ihrem Vater alles erzählt. Wie kann ihr Bruder nur glauben, sie würde ihren Vater nichts von diesem Plan erzählen? Wie kann er so naiv sein? Ihr Vater hatte sie gewarnt, dass ihre Geschwister neidisch auf sie werden würden. Aber, dass sie versuchen würden, sie gegen ihren Vater aufzubringen, empfindet sie als herbe Enttäuschung. Sie hat nun eingesehen, dass ihr Vater recht hat. Sie ist vom schlechten Charakter ihrer Geschwister überzeugt. Einige Zeit lang bleibt sie so auf dem Stuhl sitzen und grübelt. Unter ihr in der Fabrik kehrt Ruhe ein. Die Arbeiter verlassen das Gebäude, die Maschinen verstummen. Dann seufzt sie. Sie hat diese Farce nun lange genug mit gemacht. Langsam steht sie auf von dem Stuhl, in Gedanken ganz bei dem Anblick ihres Bruders, der seine gerechte Strafe schon bekommen haben wird. Dabei huscht ein Lächeln über ihr Gesicht und sie tritt geistesabwesend mit einem Fuß nicht auf den Boden, sondern durch das Loch.
Der Bruder hat die Fabrik längst verlassen und ist nach Hause gerannt, um den Vater zu holen. Der erwartet seinen Sohn im Wohnzimmer, scheinbar in die Zeitung vertieft. Der Sohn kommt schnaufend im Zimmer an und beginnt seinem Vater zu erzählen, dass die Schwester vermisst würde und er sie in die Fabrik hätte gehen sehen. Sie müssten sich schnell aufmachen, bestimmt sei die Schwester ganz verängstigt und irre in den dunklen Hallen umher. Als der Vater die Zeitung senkt, verstummt er. Der Vater grinst ein Grinsen, wie vom Teufel selbst auf sein Gesicht gemalt. Seelenruhig faltet er die Zeitung zusammen und offenbart seinem Sohn, was dessen Schwester ihm erzählt hat. Der Körper des Jungen spannt sich an, kalter Schweiß rinnt ihm über den Rücken. Er realisiert den Verrat, die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens und plötzlich ist alles ganz ruhig, er steht, wie im Auge des Orkans. Der Vater legt die Zeitung auf den Tisch und springt ruckartig auf den Jungen. Dieser reißt die Arme hoch, kann sich aber den Faustschlägen seines Vaters nicht entziehen. Eine halbe Ewigkeit schimpft und schlägt der Vater pausenlos. Nicht einmal verschwindet dieses teuflische Grinsen von seinem Gesicht. Schließlich packt er den Jungen am Kragen und sagt ihm, er solle seine Schwester holen und falls dieser auch nur ein Haar gekrümmt sei, könne er sich auf eine weitere Prügel einstellen. Er lässt ihn fallen, setzt sich auf seinen Stuhl und nimmt seine Zeitung wieder auf. Sein Sohn erhebt sich wimmernd. Fassungslos starrt er auf seinen Vater, aber er spürt, sein Widerstand ist gebrochen. Er hat wahrlich die schlimmste Prügel erlebt, aber niemanden erlöst. Sein Opfer war umsonst. Er senkt den Blick und macht sich auf den Weg zur Fabrik.
Den Weg nimmt er kaum war. Bis er ankommt gehen ihm immer wieder die Worte seines Vaters durch den Kopf. Völlig niedergeschlagen betritt er die Halle und ruft nach seiner Schwester. Nach einigen Schritten fällt ihm ein Seil auf, dass von der Decke in die Halle hängt. Er stutzt zunächst, weil es ihm vorher nie aufgefallen war, geht aber weiter darauf zu. Unter dem Seil stolpert er über den kopflosen Leichnam seiner Schwester, der in einer großen, langsam trocknenden Blutlache liegt. Sein Körper gefriert. Er versteht nichts, er ist nicht in der Lage, diesem Anblick irgend einen Sinn abzuringen. Mit Mühe lenkt er seinen Blick von dem Leichnam ab und blickt sich um. Die Halle ist dunkel, nur der Mond wirft ein silbriges Licht durch die großen Fenster. Schließlich fällt sein Blick auf einen glänzenden haarigen Klumpen, der auf einem Laufband liegt. Wie ein Automat lenkt sein Körper ihn zu dem Laufband. Langsam hebt er den Klumpen auf und blickt in das Gesicht seiner Schwester. Ein letztes erstauntes Lächeln hat sich dort eingebrannt, Blut tropft zäh aus dem Hals. Unverwandt blickt er seiner Schwester einige Sekunden lang ins Gesicht, dann beginnt er fürchterlich zu lachen.
Nach einiger Zeit blickt der Vater von seiner Zeitung auf. Ein ungutes Gefühl macht sich breit, hätte der Junge nicht schon längst zurück sein sollen? Wütend pfeffert er die Zeitung auf den Tisch. Er nimmt seinen Mantel und geht zur Fabrik. Auf dem Weg sieht er schon, dass in der Werkhalle die Lichter an sind. Er runzelt die Stirn und flüstert wütend vor sich hin, bis er die Tore erreicht. Er betritt die Fabrik und geht in die Halle. Ein verwirrender Anblick bietet sich ihm. Sein Sohn sitzt lachend auf einer Maschine, gut drei Meter über dem Boden. In der einen Hand hält er ein Seil, das vom Dachstuhl hängt und in der anderen etwas, das für den Vater aussieht wie ein dreckiger, fransiger Ball. Gesicht, Hände und Klamotten sind rot beschmiert. Er lacht. Das Lachen klingt grausig, krankhaft in den Ohren des Vaters. Mit herrischem Ton ruft er den Namen seines Sohnes, doch bevor er ihn zu Ende spricht, stockt ihm die Stimme. Der Sohn blickt ihn plötzlich an. Er lacht weiterhin, aber in seinen Augen zeigt sich eine wahnhafte Ruhe. Er fixiert den Vater mit seinem Blick am Boden. Einige Sekunden blicken sie sich in die Augen. Dem Vater wird dabei Eiskalt. Dann wirft der Junge den Kopf in den Nacken und sein Lachen schwillt an. Mit einer raschen Bewegung wirft er seinem Vater den vermeintlichen Ball zu, steckt seinen Kopf durch eine Schlaufe im Seil und stürzt sich von der Maschine.
Der Vater will losrennen, doch er fängt reflexhaft den Ball. Ein stimmloser Schrei entweicht seiner Kehle. Zitternd hält er den Kopf der Tochter und kann seinen Blick nicht von ihren toten Augen lassen. Er bricht mit dem Kopf in der Hand neben dem Leichnam seiner Tochter zusammen. Über beiden schwingt langsam der Sohn und Bruder in seinen letzten Atemzügen durch die erleuchte Halle der Fabrik.
Das also passierte wirklich! Man hat den Vater einige Stunden später gefunden. Er wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, hat sich von dem Schock aber nie wieder erholt. Nicht ein Wort hat er danach gesprochen und ist kein einziges Mal mehr von seinem Krankenbett aufgestanden. Der Rest der Familie hat sich zurückgezogen, Fabrik und Haus verkauft und sich nicht mehr blicken lassen. Sie schlossen mit dem tragischen Geschehen auf ihre Weise ab. Immerhin waren sie von dem tyrannischen Vater befreit worden und wer könnte es ihnen übelnehmen, dass sie die Geschehnisse auch als befreiend empfanden. Ist es nicht so? Die Fabrik wurde mitsamt Maschinen zu einem Spottpreis verkauft, die Produktion aber nie wieder aufgenommen. Es machten nämlich schlimme Gerüchte die Runde. Immer wieder berichteten Leute, die die Halle nach den Ereignissen betraten von unheimlichen, ja schockierenden Erlebnissen. So ist es! Manche sahen plötzlich den Kopf eines Mädchens am Boden oder hörten ein wahnsinniges Lachen; andere wieder hörten ein markerschütterndes Wehklagen. Und manche hörten alle drei Stimmen zusammen, wie ein Chor improvisierender Wahnsinniger, soll es geklungen haben.
Wirklich, eine unglaubliche Geschichte, ist es nicht so? All die Jahre, die wir nun schon hierher kommen und Leute kennen, die ganze Nächte hier verbracht haben, noch nie hat jemand dergleichen erzählt, nicht? Und ich bin sicher, wir alle sagen uns, dass die Geschichte frei erfunden ist, aber können wir es auch wissen? Und können wir uns da ganz sicher sein, wenn wir nachher von unserem Plateau steigen, die Treppe hinunter gehen, durch das Loch klettern und dann in der Halle stehen?“
Okay, Gänsehautstimmung. Klassische Gruselgeschichte, wirklich perfekt. Wir ham ers ma unsere Witze gemacht, aber es war‘n schon alle aufgekratzt. Jeder hatte son unheimliches Gefühl in sich und alle ham sich immer ma wieder über die Schulter geschaut. Aber: Das war wirklich zu Perfekt in dem Moment. Naja, wir ham dann noch weiter da oben gesessen und irgendwann war‘n wir alle bereit, nach Hause zu geh‘n. Wir also alle auf die Treppe und da noch mal geschäkert und war‘n halt n bisschen lauter, auch um dieses unheimliche Gefühl loszuwer‘n. Un wie wir dann in die Halle komm‘n, tanzen alle durch die Gegend, schreien und singen und Kraus schnappt sich plötzlich son Seil und fängt an, durchn Raum zu schwingen, wie Tarzan, macht auch noch so Geräusche dabei. Und wir lachen nur so, und Kraus schwingt im Kreis durch die große Halle. Schließlich pendelt er aus und kommt wieder auf den Boden. Lachend und noch mit dem Seil in der Hand, schaut er dran hoch und fragt dann nur so „war das eigentlich schon immer hier?“ und keiner weiß es so genau, aber plötzlich krabbelt uns allen so ein mieses Gefühl übern Rücken und alle Haare stellen sich auf un der Magen krampft sich und alles steht irgendwie still…
Und wir Renn‘n los!
So wars, wir sind einfach nur raus, ohne Rücksicht auf Verluste. Erst nachher hab ich gemerkt, das ich mir böse den Kopf gestoßen habe. Zum Glück, naja, ist Kraus erst draußen gestolpert und hat sich den Fuß verstaucht, drinnen hätt dem Niemand geholfen, wir hätten das ja nich mal gemerkt, war ja jeder für sich. So war‘s, wirklich! Guck ma, ich zitter immer noch, wenn ich das erzähl! Ich hab mit allen gesprochen und alle ham se das Gleiche erzählt: Beim Renn‘n hat jeder von uns diese drei Stimmen lachen, weinen und jammern gehört, aber irgen‘wie als ob das von uns selbst kommt und gar nich von jeman‘ anders. Als wär‘n die Stimmen nur in unser‘n Köpfen gewesen. Ich bin mir sicher, da hat niemand geschrien, aber ich habs trotzdem gehört.