Kurze Vorgeschichte
Die am östlichen Karpatenrand gelegene historische Landschaft Bukowina (die südliche Bukowina gehört heute zu Rumänien, die nördliche zur Ukraine) ging 1775 vom osmanischen Vasallenstaat Moldau an Österreich über. Deutsche und deutsch- bzw. jiddischsprachige Juden, die schon bald nach der Angliederung an Österreich nach Bukowina umsiedelten (Bukowinadeutsche oder Buchenwalddeutsche), trugen zur wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Landes im 19. Jahrhundert bei. Es kam zu einer raschen Zunahme der bäuerlichen Bevölkerung (bis 1846 hatte sich die Bevölkerung auf 370.000 versechsfacht).
1910 lebten 73.000 Deutsche (9,2 Prozent der Bevölkerung) mit Ukrainern (38,4), Rumänen (34,4), Juden (12,0) und anderen Sprachgemeinschaften in der Bukowina zusammen. Die Menschen sprachen unabhängig von ihrer Nationalität zwangsläufig fast alle mehrere Sprachen.
1919 kam die Bukowina durch den Vertrag von St. Germain an Rumänien, bevor ihr nördlicher Teil mit Czernowitz ebenso wie Bessarabien im Juni 1940 von den Sowjets annektiert und der Sowjetukraine zugeschlagen wurde. Aufgrund des deutsch-sowjetischen Umsiedlungsabkommens vom 5.9.1940 und einer deutsch-rumänischen Vereinbarung vom 22.10.1940 verließen September/Dezember 1940 insgesamt rund 93.000 Deutsche nicht nur den an die UdSSR gefallenen Teil, sondern auch den bei Rumänien gebliebenen Teil der Bukowina. 55.000 von ihnen wurden in Ost-Oberschlesien und im Wartheland (Warthegau), Polen untergebracht, von wo sie Anfang 1945 fliehen mussten oder vertrieben wurden.
Meine Vorfahren gehörten zu den nach 1775 nach Südbukowina (das damals zu Österreich gehörte) eingesiedelten Deutschen.
Die Grenze zwischen Bukowina und dem damaligen Moldau verlief zwischen den Orten Sereth (ca. 10.000 Einwohner) und dem kleineren, nur 7 km entfernten Mihaileni. (Mihaileni wurde im Jahre 1792 nach der Eröffnung einer Zollstelle zwischen der Republik Moldau und Bukowina gegründet.) Im 19. Jahrhundert siedelten sich mehr und mehr Juden in Mihaileni an und der Ort erfuhr einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung, begünstigt durch Funde von Tonerde für die Herstellung von Töpferware. Dies bewirkte, dass viele tüchtige deutsche Handwerker aus Bukowina in das nahe Mihaileni zogen, darunter auch unsere Vorfahren. 1919 kam die Bukowina an Rumänien und die Grenze zwischen Sereth und Mihaileni verschwand.
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Wanderung durch den Krieg
Vierter Dezember 1940
Das Datum wird zum Meilenstein.
Ein Sonderzug fährt Richtung Westen.
In ihm sitzen Groß und Klein:
Deutsche aus Rumäniens Osten.
Was werden wird, weiß Gott allein,
doch wird es sie etwas kosten.
Es war kein Zwang, es war Empfehlung
die Heimat zu verlassen
zwecks einer deutschen Volksvermehrung.
Man folgte ihr in Massen.
Es wurde eine jahrelange
Irrfahrt für die meisten.
Man lernte kennen Angst und Bange
und Leben, die entgleisten.
Für die Alten, die noch übrig waren
neunzehnhundertfünfundvierzig,
wurde das Leben mit den Jahren
freundlicher und würzig.
Doch sollten sie nie mehr erfahren
die Freude von vor-neunzehn-vierzig.
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Die Familie (Vater, Mutter, zwei kleine Mädchen) fuhr - zusammen mit der weiteren Großfamilie und den meisten anderen Deutschen aus dem kleinen rumänischen Ort Mihaileni - am 04.12.1940 mit einem Sonderzug nach Mallersdorf in Bayern. Sie wurden im nahen Nonnenkloster untergebracht und wohnten dort 9 Monate. In Mallersdorf wurde ein weiteres Mädchen geboren.
1942 wurden sie in ein Lager in Straubing überführt, wo Willi am 31. Januar 1943 geboren wurde.
1941 vertrieben die Nationalsozialisten rund 900.000 Polen aus dem seit 1939 besetzten ehemaligen westlichen Westpreußen in das sogenannte Generalgouvernement. Den Platz in der als "Warthegau" bezeichneten Provinz sollten deutsche "Umsiedler" einnehmen.
Ab Juli 1943 waren wir dort - in mehrern Orten - wurden aber nicht sesshaft.
Die allgemeine Lage in Polen wurde unsicher, die russischen Streitkräfte näherten sich. Die Männer mussten noch bleiben, Frauen und Kinder wurden in andere Lager Richtung Westen transportiert.
Am 23.03.1944 kamen Frauen und Kinder nach Psary Maly (damals Waldhorst), Polen, wo Erika am 7. Juni 1944 geboren wurde. Von einem Unfall in einem Zug während der Flucht erholte sie sich nie. Sie starb 1947 in einem Krankenhaus in Bad Tölz.
Am 18.01.1945 wurden die Bewohner des Lagers Waldhorst angewiesen, das Lager fluchtartig zu verlassen, da die russische Armee im Anmarsch war. Der Vater war in dieser Nacht nicht bei seiner Familie. Es ist ein Wunder dass die Mutter mit ihren fünf kleinen Kindern diese zweieinhalb Monate Tour überstand. Erika war ein halbes, Willi zwei Jahre alt. Während dieser chaotischen Flucht wurden Familien auseinandergerissen. Einzelne Gruppen mussten sich durchschlagen so gut es ging. Tausende starben auf ihrem Weg in den Westen. Mehrere davon gehörten zu unserer Großfamilie.
Die Mutter mit ihren Kindern kamen nach Blankenburg, Harz.
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Völkerwanderung
Ein Bub erblickt das Licht der Welt.
Es ist nicht gut um sie bestellt.
Es tobt der Krieg seit fast vier Lenzen,
zerstörte Menschen, Länder, Grenzen.
Der Junge wurde g'rad geboren,
im Januar. Hat er gefroren?
Die Sippschaft war - gezwung'nerweise -
auf kollektiver Völkerreise.
Der Abschlussmarsch, weiß heut das 'Büblein',
ging Richtung Ende, ohne Grabstein.
Er fragt sich ständig und verstohlen:
"Wie gelang die Flucht aus Polen?"
Er wird es niemals ganz erfahren -
die Mutter schwieg in ihren Jahren.
Der Junge, da zwei Jahre jung,
war Teil der Völkerwanderung.
Zigtausend kamen an ihr Ende,
spärlich waren Helferhände.
Den kalten Tod auch Kinder spürten,
Engel sie zum Himmel führten.
Das Schicksal nahm sich seiner an,
ein scheuer Junge wurde Mann.
Es ließ ihn wandern fünf, sechs Lenze,
überschreiten manche Grenze.
Es führte ihn ins fremde Land,
in dem er Frau und Ruhe fand.
Des Rentners Denken ist noch jung,
es gräbt in der Erinnerung.
Und plötzlich ist sie da, präsent,
durch Bilder, die heut jeder kennt.
Ein Völkerwandern zeigt sich mir.
Familien wandern, wie damals wir.
Sie wissen nicht genau wohin.
Hat das irgendeinen Sinn?
Die Fragen stehn im Kindgesicht:
"Wo sind wir, wir verstehen nicht."
Sie werden wandern - vielleicht Lenze -
und weinend stehn an mancher Grenze.
Dann, zum Schluss, ich will es glauben,
wird das Schicksal es doch richten:
Den Kindern ein Zuhause geben,
eine Zukunft und ein Leben.
Ihnen als Rentnern so erlauben,
den Enkelkindern zu berichten.
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Die Mutter wusste nicht, dass unser Vater bereits am Hesselberg, nahe Dinkelsbühl, war.
Der Vater suchte seinerseits nach uns. Von seinen Eltern in Salzgitter Lebenstedt erfuhr er, dass sich seine Familie in Blankenburg, befindet. Über die entsprechenden Stellen erreichte er, dass wir auch zum Lager Hesselberg kommen konnten.
Am 8. Mai kapitulierte Deutschland, der Krieg war zu Ende.
Mitte Mai 1945 wurden wir und die anderen Rumäniendeutschen von den Amerikanern vom Hesselberg nach Segringen gebracht. In dem kleinen Bauerndorf Segringen, 2,5 Kilometer von Dinkelsbühl entfernt, wurden wir gut aufgenommen. Wir waren mehrere Familien, ca. 60 Personen. Der Bürgermeister Heinrich Schmidt empfing uns freundlich und besorgte umgehend Brot und Milch für uns alle.
Die meisten der Flüchtlinge wurden in der alten Schule neben der Kirche untergebracht.
Zu Weihnachten 1951 siedelten wir um nach Düsseldorf, in eine (fast) fertige Wohnung.
Nur Willi, da 8 Jahre alt, war traurig. Er verlor den Wald und die Wiesen eines Bauern und dessen Kühe, die er hütete - und damit seine frohe Kindheit.
Nach 11 Kriegs- und Wanderjahren hatte die Familie wieder ein Heim, das die Eltern nie mehr verließen.
Der Vater besuchte seinen Heimatort Mihaileni und die wenigen verbliebenen Verwandten, die Mutter nie.
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Die Mutter starb zu Haus, alleine
Drei Töchter hat ihr Gott gegeben,
bevor den Sohn Er ihr geschenkt.
Drei Schwestern halfen ihm durchs Leben -
zu Haus und bald von Fern' gelenkt.
Das vierte Mädchen ging verloren
im Krieg, der Tod hatt' viel zu tun.
Ihr zweiter Junge ward geboren -
der Krieg war aus: "...und was wird nun?"
In Düsseldorf am Rhein, dem schönen,
die Wanderjahre war'n vorbei.
Das Leben wollte uns verwöhnen -
auf welche Weise? - einerlei!
Zwei Schwestern fanden ihre Liebe
im gleichen Land, im gleichen Ort.
Des "großen" Jungen eigne Triebe
trieb weit ihn weg - er ist noch dort.
Die Eltern waren bald alleine,
der "kleine" Sohn zur Hilfe stand.
Die Mutter starb zu Haus, alleine -
zurück zur Heimat nie sie fand.
Beten für den Frieden
Ich bin im Krieg geboren,
doch hab ihn nicht erlebt.
Ich hab kein Glück verloren,
im Frieden nur gelebt.
Ich spielte in Ruinen
und spürte nicht die Not.
Wir kriegten bald Rosinen,
es schwamm wieder, das Boot.
Ich wuchs im Takt der Häuser
in Düsseldorf am Rhein.
Ich blieb ein ziemlich Leiser,
es sollte wohl so sein.
Ich führt ein ruhig' Leben
in meiner stillen Welt.
Es hat sich halt ergeben,
ich hab es nicht bestellt.
Ich wurd Familienvater,
mein Leben wollt es so.
Ich machte nie "Theater"
zuhause, anderswo.
Die Jahre waren Siege,
das Schicksal wollt es so,
doch rundherum war'n Kriege,
und Elend sowieso.
Ich brauchte nie zu darben
und war fast immer froh.
Nicht weit entfernt sie starben,
so war's, ist heut noch so.
Bin Opa nun, gut siebzig,
schau live die Not, die Qual.
Ich höre oft "Das gibt sich",
der Trost schmeckt bitter, schal.
Mich lässt das Leben leben
in Frieden, mit Pension.
Ich kann mich nur bedanken...
Mein Dank, was bringt der schon.
Ich bete für den Frieden,
er war mein Lebensfreund.
Und ihn, der mir beschieden,
sich wünschen Freund wie Feind.
© Willi Grigor, 2022