Der Doppelmord in der Rue Morgue - Page 14

Bild zeigt Edgar Allan Poe
von Edgar Allan Poe

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Ausflug in das Innere des Landes. Es gelang ihm und einem seiner Kameraden, einen Orang-Utan zu fangen. Da sein Gefährte bald darauf starb, kam er in alleinigen Besitz des Tieres.

Nach vielen Schwierigkeiten, die das Tier ihm auf der Reise durch seine unbezähmbare Wildheit verursachte, kam er endlich glücklich mit ihm in Paris an. Um der Neugier der Nachbarn auszuweichen, hielt er die Bestie vorläufig in seiner Wohnung eingeschlossen; sein Plan war, den Affen zu verkaufen, sobald dieser von einer Fußwunde geheilt sein würde, die er sich an Bord durch das Eindringen eines Splitters zugezogen hatte.

Er kam an dem Abend, oder besser gesagt, an dem frühen Morgen, an dem die Mordtaten verübt wurden, von einem Matrosenfest nach Hause zurück und fand dort die Bestie in seinem Schlafzimmer. Es war ihr gelungen, aus dem angrenzenden Gelaß, wo der Matrose sie angebunden hatte und sicher verwahrt glaubte, auszubrechen. Er fand das Tier eingeseift und mit dem Rasiermesser in der Hand vor dem Spiegel, wo es sich zu rasieren versuchte; wahrscheinlich hatte es öfter durch das Schlüsselloch seinen Herrn bei dieser Beschäftigung beobachtet.

Entsetzt von dem Anblick einer so gefährlichen Waffe in den Händen des wilden Tieres, das möglicherweise einen furchtbaren Gebrauch davon machen würde, verlor der Mann im ersten Augenblick den Kopf. Indessen war es ihm bisher stets gelungen, das Tier, selbst wenn es sich noch so wild und unbändig erwies, durch Anwendung der Peitsche zu beruhigen, und zu diesem Mittel nahm er auch jetzt seine Zuflucht. Als aber der Orang-Utan die Peitsche sah, entsprang er mit einem Satz durch die geöffnete Zimmertür, jagte die Treppe hinab und entfloh durch ein zufällig offenes Fenster auf die Straße.

Der Franzose folgte in Verzweiflung. Der Affe, der immer noch das Rasiermesser in der Hand hatte, blieb zuweilen stehen, um sich nach seinem Verfolger umzusehen und ihm Grimassen zu schneiden. Wenn der Mann ihn dann beinahe erreicht hatte, lief er wieder in tollen Sprüngen weiter.

In dieser Weise setzte sich die Jagd lange fort. In den Straßen herrschte tiefe Stille; es war gegen drei Uhr morgens. Als der Flüchtling das hinter der Rue Morgue liegende Gäßchen erreicht hatte, wurde seine Aufmerksamkeit durch den Lichtschein gefesselt, der durch das offene Fenster des im vierten Stock liegenden Zimmers der Madame L'Espanaye schimmerte. Das Tier stürzte auf das Gebäude zu, und als es den Blitzableiter bemerkte, kletterte es mit verblüffender Geschwindigkeit daran hinauf, klammerte sich an den weit offenstehenden Fensterladen, gab sich einen Schwung und gelangte direkt in das Zimmer und auf das Kopfende des Bettes. Den Fensterladen stieß der Affe, sobald er in das Zimmer gedrungen, wieder zurück.

Der Matrose war sowohl erfreut als tief beunruhigt. Er hoffte, nun das Tier wieder einzufangen, denn es würde kaum einen andern Ausweg aus der Falle, in die es geraten, finden, als den Blitzableiter, und wenn es daran herunterkletterte, würde es nicht allzu schwer sein, sich seiner zu bemächtigen. Andrerseits war Grund genug, zu befürchten, es werde in dem Haus Unheil anrichten. Diese letzte Erwägung bestimmte den Matrosen, den Flüchtling weiter zu verfolgen. An einem Blitzableiter in die Höhe zu klettern ist eine Aufgabe, die einem Matrosen nicht allzu große Schwierigkeiten bietet. Als er jedoch bis zur Höhe des Fensters, das links von ihm lag, gekommen war, konnte er nicht weiter. Es gelang ihm aber, sich so weit vorzubeugen, daß er einen Blick in das Innere des Zimmers tun konnte. Bei dem entsetzlichen Anblick, der sich ihm darin bot, wäre er beinahe vor Schrecken abgestürzt. Und dann wurde die Stille der Nacht plötzlich durch jenes furchtbare Geschrei unterbrochen, das die Bewohner der Rue Morgue aus dem Schlaf weckte. Madame L'Espanaye und ihre Tochter waren, in ihre Nachtkleider gehüllt, offenbar damit beschäftigt gewesen, irgendwelche Papiere in der schon erwähnten eisernen Geldkiste zu ordnen, die sie zu diesem Zweck mitten in das Zimmer gestellt hatten. Sie war offen, und ihr Inhalt lag auf dem Fußboden daneben. Die Opfer hatten wahrscheinlich so gesessen, daß sie dem Fenster den Rücken zukehrten; und da eine kleine Weile zwischen dem Eindringen des Tieres und dem entsetzten Angstgeschrei der Damen verstrich, ist es möglich, daß sie die Bestie nicht sogleich bemerkt hatten. Das Zurückschlagen des Fensterladens haben sie vielleicht dem Wind zugeschrieben. Als der Matrose in das Zimmer blickte, hatte die riesige Bestie Madame L'Espanaye an dem lose herabhängenden Haar gepackt und schwenkte das Rasiermesser vor ihrem Gesicht, die Bewegungen eines Barbiers nachahmend. Die Tochter lag lang ausgestreckt und regungslos auf dem Fußboden; sie war ohnmächtig geworden. Das Geschrei und die Befreiungsversuche der alten Dame, der er das Haar aus dem Kopf riß, versetzten den Orang-Utan, der vorher vielleicht ganz friedliche Absichten gehabt hatte, in wildeste Wut, Mit einem kräftigen Schwung seines muskulösen Armes trennte er den Kopf der Dame beinahe ganz vom Rumpf. Der Anblick des Blutes steigerte seine Wut bis zur Tollheit. Zähnefletschend und mit funkelnden Augen stürzte er sich auf das junge Mädchen, grub seine entsetzlichen Krallen in ihren Hals und würgte die Unglückliche, bis sie tot war. Zufällig wohl fielen in diesem Augenblick seine wild rollenden Augen auf das Kopfende des Bettes, hinter dem das schreckensbleiche Gesicht seines Herrn sichtbar wurde. Die Wut des Tieres, das schon allzuoft die Bekanntschaft mit der Peitsche gemacht hatte, verwandelte sich sofort in feige Angst. Wohl wissend, daß es Strafe verdiene, schien es die Spuren seiner Bluttat rasch verwischen zu wollen; es lief in nervöser Hast im Zimmer umher, riß die Möbel um und zerschlug sie und zerrte die Kissen und Decken aus dem Bett. Endlich ergriff es die Leiche der Tochter und stieß und zwängte sie gewaltsam in den Schornstein hinauf, wo sie dann später gefunden wurde. Dann stürzte es sich auf die der alten Dame und schleuderte sie kopfüber zum Fenster hinaus.

Als der Affe sich mit seiner verstümmelten Last dem Fenster näherte, fuhr der Matrose erschrocken zurück; voll Angst ließ er sich am Blitzableiter hinabgleiten und beeilte sich, so schnell als möglich nach Hause zu kommen, weil er die Folgen der Metzelei fürchtete. Um das Schicksal des Orang-Utans kümmerte er sich vorläufig nicht. Die Worte, welche von den die Treppe hinauflaufenden Leuten vernommen wurden, waren dem Matrosen in seinem Entsetzen entfahren. Das schrille, teuflische Gekreisch der Bestie hatte man irrtümlich für eine eigentümlich scharfe, heiser gellende menschliche Stimme gehalten . . .

Mir bleibt kaum noch etwas hinzuzufügen. Der Orang-Utan muß, gerade ehe die Tür aufgebrochen wurde, durch das Fenster entwischt und an dem Blitzableiter herabgeglitten sein. Er ist schließlich doch, und zwar von seinem rechtmäßigen Besitzer, wieder eingefangen worden, der ihn zu einem hohen Preis an den »Jardin des Plantes« verkauft hat. Lebon wurde sofort aus der Untersuchungshaft entlassen, nachdem wir im Büro des Polizeipräfekten den von einem Kommentar Dupins begleiteten genauen schriftlichen Bericht über diese Affäre niedergelegt hatten. Obwohl der Präfekt meinen Freund sehr hochschätzte, konnte er doch eine gewisse Gereiztheit über die Wendung der Dinge nicht verbergen, und er verriet dies durch ein paar spöttische Bemerkungen über Leute, die ihre Nase in Dinge steckten, die sie im Grunde nichts angingen.

»Laß ihn reden«, sagte Dupin, der ihn keiner Antwort gewürdigt hatte; »laß ihn reden! Er will nur sein Gewissen dadurch beruhigen. Mir genügt es, ihn auf seinem eigenen Gebiet geschlagen zu haben. Übrigens ist es nicht zu verwundern, daß er die Lösung dieses Geheimnisses nicht zu finden vermochte. Unser Freund, der Präfekt, ist eben zu schlau, um tief sein zu können. Seine Weisheit hat keinen soliden Boden. Sie gleicht den Abbildungen der Göttin Laverna, d. h. sie besteht nur aus Kopf und hat keinen Körper – oder höchstens Kopf und Schultern – wie ein Stockfisch! Aber er ist darum doch ein ganz famoser Kerl. Ich habe ihn besonders gern und schätze ihn vor allem wegen einer Gabe, der er den Ruf, ein Genie an Scharfsinn zu sein, hauptsächlich verdankt, nämlich wegen seiner Vorliebe ›de nier ce qui est et d'expliquer ce qui n'est pas‹ – wie es in Rousseaus ›Nouvelle Héloise‹ heißt.«

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Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 3: Verbrechergeschichte. Herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922]. Erstdruck in: Graham's Magazine, April 1841.

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Interpretation von Edgar Allan Poes „Der Doppelmord in der Rue Morgue“

Edgar Allan Poes 1841 veröffentlichte Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ gilt als ein Grundstein der modernen Detektivgeschichte. In ihr werden wesentliche Elemente eines Genres sichtbar, dessen Ausformung und Konventionen weit über das 19. Jahrhundert hinaus Bedeutung erlangten. Bereits die Verwendung eines genialen, deduktiv vorgehenden Ermittlers – Auguste Dupin – sowie das Moment des schier Unmöglichen, des von innen verriegelten Tatorts (Locked-Room-Mystery), prägen die narrative Struktur und die späteren Entwicklungen der Kriminalliteratur. Die Erzählung ist damit nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch ein programmatisches Werk, in dem Poe das rätselhafte Verbrechen als intellektuelles Spielfeld darstellt, auf dem sich die Macht der Logik gegenüber dem scheinbar Unbegreiflichen behaupten muss.

Rationalität vs. Schrecken und Sensation

Eine zentrale interpretative Spur liegt in Poes Gegenüberstellung von rationalem Denken und sensationsgieriger Faszination am Unheimlichen. Die Pariser Gesellschaft reagiert entsetzt und verwirrt auf den grausamen Mord an Mutter und Tochter, der sich in einem verschlossenen Zimmer im vierten Stock abspielt. Während die Öffentlichkeit – inklusive der Polizei – geneigt ist, sich in Gerüchten und vermeintlich übernatürlichen Erklärungen zu verlieren, setzt Dupin auf kühle, logische Analyse. Diese Haltung spiegelt Poes Skepsis gegenüber den rein emotionalen, irrlichtenden Reaktionen der Menge wider. Zugleich zeigt sich hier die aufklärerische Geisteshaltung, wonach auch die seltsamsten Phänomene mit scharfem Verstand verstanden, wenn nicht sogar restlos erklärt werden können. Der Durchbruch der Rationalität durch den Schleier des Makaberen wird zur intellektuellen Herausforderung, die über das bloße Erzählen von Schrecken hinausgeht.

Das Motiv der abgeschlossenen Räume (Locked-Room-Mystery)

Der vermeintlich „unmögliche“ Mord in einem verschlossenen Raum steht symbolisch für den hermetischen Raum der menschlichen Psyche oder des Geheimnisses selbst. Der Leser begegnet einer Situation, die zunächst alle konventionellen Erklärungsansätze sprengt. Das verschlossene Zimmer wird zum Sinnbild für Rätselhaftigkeit – und letztlich zur Bühne, auf der die Vernunft ihre Brillanz beweisen kann. Indem Dupin die Indizien ordnet, die Widersprüche der Zeugenaussagen erkennt und die Spur akribisch verfolgt, zeigt Poe, dass auch ein scheinbar übermenschliches Verbrechen durch folgerichtige Analyse entschlüsselt werden kann. Diese Idee ist zukunftsweisend: Das Locked-Room-Szenario wird später ein beliebtes Muster in der Detektivliteratur, ein Schauplatz, an dem der menschliche Verstand seine Überlegenheit über das Mysteriöse behauptet.

Die Rolle des Erzählers und die Figur Dupins

Bemerkenswert ist die Figur des Erzählers, der als enger Vertrauter Dupins fungiert, aber selbst keine eigenständigen Ermittlungen unternimmt. Er dient als Vermittler zwischen Dupins überlegenem Intellekt und der Leserschaft. Indem er staunend und bewundernd auf Dupin blickt, spiegelt er die Reaktion des Lesers. Gleichzeitig ist er der Repräsentant des „durchschnittlichen“ Menschen, der sich anfangs von der Unerklärlichkeit einschüchtern lässt. Dupins Analyse schlägt hier eine Brücke: Der Leser erhält die Möglichkeit, nachzuvollziehen, wie Verstand, Phantasie und methodisches Denken Schritt für Schritt zur Lösung führen. Dupin selbst ist kein Beamter, kein offizieller Ermittler, sondern eine Art Privatgelehrter, der sich dem Fall intellektuell nähert. Das stellt den Detektiv als gesellschaftlichen Außenseiter vor, der frei von bürokratischen Zwängen rein nach Logik und Intuition vorgeht – ein späteres Leitmotiv für viele Detektivfiguren der Literaturgeschichte.

Mensch und Tier, Zivilisation und Natur

Die schockierende Auflösung, dass kein menschlicher Täter, sondern ein entflohener Orang-Utan für die grausamen Morde verantwortlich ist, lässt sich als Kontrast zwischen Zivilisation und Natur deuten. Während die gesamten Ermittlungen davon ausgehen, dass ein Mensch die Morde begangen hat, enthüllt die Lösung eine andere, archaische Gewalt. Poes Erzählung spielt somit mit einer tief verwurzelten Furcht: dem Einbruch des Animalischen, Unkontrollierten in die geordnete, städtisch-zivilisierte Welt. Auch hier wird jedoch klar: So erschreckend und irrational die Tat des Tieres auf den ersten Blick erscheint, letztlich ist sie ein natürliches Ereignis. Es handelt sich nicht um ein übernatürliches Phänomen, sondern um eine Folge fehlgeleiteter Instinkte. Damit zeigt Poe, dass das Unheimliche nicht jenseits der Natur liegt, sondern im Unbekannten, im nicht Verstandenen der eigenen Wirklichkeit.

Fazit: Intellektuelle Kontrolle über das Geheimnis

„Der Doppelmord in der Rue Morgue“ kann als poetisches Manifest der Vernunft gelesen werden. Poe demonstriert, dass selbst das grausamste und scheinbar unauflösliche Rätsel logisch geklärt werden kann, sofern man sich der richtigen Methode bedient. Die Geschichte ist weniger an sozialer Gerechtigkeit oder moralischer Empörung interessiert, sondern an der Leistung des menschlichen Geistes, der in der Lage ist, aus einem scheinbar unlösbaren Geheimnis Sinn und Ordnung zu erschaffen. Damit legt Poe den Grundstein für das Detektivgenre, in dem Verbrechen nicht nur als moralischer Missstand, sondern als intellektuelle Herausforderung begriffen werden. Der erste Detektiv der Literatur, Dupin, zeigt, dass das Rätselhafte durch systematisches Denken und die richtige Perspektive entschlüsselt werden kann – ein Credo, das in zahlreichen späteren Kriminalerzählungen nachhallen wird.

 

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