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Die Aussage eines zweiten Franzosen weicht wieder von der des ersten ab: er behauptet, daß es unbedingt die Stimme eines Italieners war, die er vernommen habe; er versteht kein Wort Italienisch, hat aber wie der Spanier nach dem Tonfall geurteilt. Wie ganz ungewöhnlich muß diese Stimme gewesen sein, daß die Aussagen der Zeugen darüber so weit auseinandergehen konnten, daß sie Menschen aus den fünf großen europäischen Völkergruppen durchaus fremd erschien! Sie werden allerdings einwerfen, daß es ja möglicherweise auch die Stimme eines Asiaten oder Afrikaners gewesen sein könne. Es gibt deren in Paris nicht allzu viele, aber ohne diese Möglichkeit zu bestreiten, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf drei bestimmte Punkte leiten. Der eine der Zeugen erklärte, daß die Stimme mehr heiser als schrill gewesen sei. Zwei andere behaupten, daß sie schnell und in abgebrochenen Lauten gesprochen habe. Kein einziger der Zeugen konnte Worte oder wortähnliche Laute unterscheiden.
Ich weiß nicht«, fuhr Dupin fort, »welchen Eindruck meine Auseinandersetzungen auf Sie gemacht haben, aber ich zögere nicht, die Behauptung aufzustellen, daß der Teil der Zeugenaussagen, der sich auf die rauhe und schrille Stimme bezieht, hinreichend ist, einen Verdacht zu erregen, der maßgebend für alle weiteren Forschungen sein sollte und durch den voraussichtlich dieses furchtbare Rätsel seine Lösung finden wird. Ich behaupte, daß die Schlüsse, die ich aus den Zeugenaussagen gezogen habe, die einzig richtigen sind und daß sie in bezug auf den Mörder nur eine Folgerung zulassen. Welcher Art aber diese Vermutung ist, das möchte ich Ihnen vorläufig noch nicht sagen. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß sie mir wichtig genug war, um meinen Untersuchungen in dem Mordzimmer eine ganz bestimmte Richtung zu geben.
Versetzen wir uns im Geist wieder in jenes Zimmer. Was ist das erste, was wir darin suchen? Selbstverständlich die Mittel und Wege, die die Mörder zu ihrer Flucht benutzt haben. Ich darf doch zweifellos behaupten, daß weder Sie noch ich an übernatürliche Dinge glauben? Frau und Fräulein L'Espanaye sind nicht durch Geister ums Leben gekommen. Die Täter waren materielle Wesen und sind in materieller Weise entkommen. Aber wie? Glücklicherweise bleibt für unsere Schlußfolgerung nur ein Weg offen, und dieser muß uns zu einer endgültigen Feststellung führen. Untersuchen wir der Reihe nach die Wege, auf denen den Tätern die Möglichkeit einer Flucht geboten war. Es ist klar, daß die Mörder, als die Zeugen die Treppe heraufeilten, entweder in dem Zimmer, in dem Fräulein L'Espanaye gefunden wurde, oder doch in dem angrenzenden kleinen Zimmer gewesen sein müssen. Sie können daher auch nur aus einem dieser beiden Zimmer den Ausweg gefunden haben. Die Polizei hat den Fußboden, die Decke und das Mauerwerk der Wände auf das sorgfältigste untersucht. Kein geheimer Ausgang würde ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein. Da ich aber den Augen der Polizei nicht unbedingt traue, so prüfte ich alles mit meinen eigenen. Es war aber wirklich kein geheimer Ausgang vorhanden. Von den Zimmern führten Türen in den Gang, aber sie waren fest verschlossen, und zwar steckte in beiden Schlössern der Schlüssel von innen. Betrachten wir uns nun die Schornsteine; sie haben zwar oberhalb des Kamins bis zur Höhe von acht bis zehn Fuß die gewöhnliche Breite, verengen sich aber dann so sehr, daß kaum eine große Katze hindurch könnte. Da also die Unmöglichkeit, auf diesen beiden Wegen zu entwischen, bewiesen ist, sehen wir uns auf die Fenster beschränkt. Durch die des Vorderzimmers hätte unmöglich jemand entfliehen können, ohne von den vor dem Hause versammelten Menschen bemerkt zu werden. Die Mörder müssen daher durch eins der Fenster des Hinterzimmers entkommen sein. Nachdem wir zu diesem Schluß gelangt sind, dürfen wir ihn nicht ohne weiteres verwerfen, weil wir auch hier scheinbaren Unmöglichkeiten gegenüberstehen. Es gilt nur den Beweis zu liefern, daß in Wirklichkeit diese Unmöglichkeiten nicht bestehen.
Das Zimmer hat zwei Fenster. Eins davon ist nicht durch Möbel verstellt und vollständig sichtbar. Der untere Teil des anderen wird dem Auge ganz durch das Kopfende einer davorstehenden Bettstatt entzogen: Das erste Fenster wurde von innen fest verschlossen gefunden. Die Bemühungen mehrerer Personen, es in die Höhe zu schieben, waren erfolglos. Auf der linken Seite des Rahmens war ein ziemlich großes Loch eingebohrt, und in diesem Loch steckte ein beinahe bis zum Kopf eingetriebener, sehr starker Nagel. Bei der Untersuchung des zweiten Fensters ergab sich, daß dort ein ebensolcher Nagel angebracht war, und auch hier versuchte man es vergebens, das Fenster in die Höhe zu schieben. Die Polizei beruhigte sich hiermit und war überzeugt, daß die Täter nicht durch eines der Fenster entflohen seien. Man hielt es daher auch für überflüssig, die Nägel herauszuziehen und die Fenster zu öffnen.
Meine eigene Untersuchung fiel etwas sorgfältiger aus, und zwar aus dem eben angeführten Grund – ich wußte, es müsse sich hier erweisen, daß eine scheinbare Unmöglichkeit in Wirklichkeit nicht bestand.
Ich schloß also weiter – a posteriori: Die Mörder entkamen unbedingt durch eines dieser Fenster. Wenn dies der Fall war, so konnten sie jedoch unmöglich die Schiebfenster von innen in der Weise befestigt haben, wie man sie vorgefunden hatte: ein Umstand, dessen Unbestreitbarkeit dann ja auch allen Nachforschungen der Polizei nach dieser Richtung ein Ende machte. Da die Schiebfenster in der angegebenen Weise wieder zugemacht worden waren, mußte unbedingt ein sogenannter Selbstschließer daran angebracht sein. Diesem Schluß konnte ich mich nicht entziehen. Ich begab mich nun an das freiliegende Fenster, zog mit einiger Mühe den Nagel heraus und versuchte die Scheiben in die Höhe zu schieben. Wie ich es eigentlich nicht anders erwartet hatte, gelang mir dies nicht. Ich war nun fest davon überzeugt, daß irgendwo eine Feder verborgen sein mußte, und wenn die Geschichte mit den Nägeln mir auch noch dunkel erschien, so fand ich doch sehr bald die Bestätigung meiner Vermutung. Es gelang mir nach sorgfältigem Suchen, die verborgene Feder zu finden. Ich drückte darauf, unterließ es aber, von der Entdeckung einstweilen befriedigt, das Fenster hinaufzuschieben.
Ich steckte den Nagel wieder ein und betrachtete ihn aufmerksam. Wenn jemand durch dieses Fenster entflohen war, konnte er es sehr wohl von außen zuschlagen, so daß die Feder wieder einfallen mußte; aber der Nagel, der konnte unmöglich von außen wieder
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Interpretation von Edgar Allan Poes „Der Doppelmord in der Rue Morgue“
Edgar Allan Poes 1841 veröffentlichte Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ gilt als ein Grundstein der modernen Detektivgeschichte. In ihr werden wesentliche Elemente eines Genres sichtbar, dessen Ausformung und Konventionen weit über das 19. Jahrhundert hinaus Bedeutung erlangten. Bereits die Verwendung eines genialen, deduktiv vorgehenden Ermittlers – Auguste Dupin – sowie das Moment des schier Unmöglichen, des von innen verriegelten Tatorts (Locked-Room-Mystery), prägen die narrative Struktur und die späteren Entwicklungen der Kriminalliteratur. Die Erzählung ist damit nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch ein programmatisches Werk, in dem Poe das rätselhafte Verbrechen als intellektuelles Spielfeld darstellt, auf dem sich die Macht der Logik gegenüber dem scheinbar Unbegreiflichen behaupten muss.
Rationalität vs. Schrecken und Sensation
Eine zentrale interpretative Spur liegt in Poes Gegenüberstellung von rationalem Denken und sensationsgieriger Faszination am Unheimlichen. Die Pariser Gesellschaft reagiert entsetzt und verwirrt auf den grausamen Mord an Mutter und Tochter, der sich in einem verschlossenen Zimmer im vierten Stock abspielt. Während die Öffentlichkeit – inklusive der Polizei – geneigt ist, sich in Gerüchten und vermeintlich übernatürlichen Erklärungen zu verlieren, setzt Dupin auf kühle, logische Analyse. Diese Haltung spiegelt Poes Skepsis gegenüber den rein emotionalen, irrlichtenden Reaktionen der Menge wider. Zugleich zeigt sich hier die aufklärerische Geisteshaltung, wonach auch die seltsamsten Phänomene mit scharfem Verstand verstanden, wenn nicht sogar restlos erklärt werden können. Der Durchbruch der Rationalität durch den Schleier des Makaberen wird zur intellektuellen Herausforderung, die über das bloße Erzählen von Schrecken hinausgeht.
Das Motiv der abgeschlossenen Räume (Locked-Room-Mystery)
Der vermeintlich „unmögliche“ Mord in einem verschlossenen Raum steht symbolisch für den hermetischen Raum der menschlichen Psyche oder des Geheimnisses selbst. Der Leser begegnet einer Situation, die zunächst alle konventionellen Erklärungsansätze sprengt. Das verschlossene Zimmer wird zum Sinnbild für Rätselhaftigkeit – und letztlich zur Bühne, auf der die Vernunft ihre Brillanz beweisen kann. Indem Dupin die Indizien ordnet, die Widersprüche der Zeugenaussagen erkennt und die Spur akribisch verfolgt, zeigt Poe, dass auch ein scheinbar übermenschliches Verbrechen durch folgerichtige Analyse entschlüsselt werden kann. Diese Idee ist zukunftsweisend: Das Locked-Room-Szenario wird später ein beliebtes Muster in der Detektivliteratur, ein Schauplatz, an dem der menschliche Verstand seine Überlegenheit über das Mysteriöse behauptet.
Die Rolle des Erzählers und die Figur Dupins
Bemerkenswert ist die Figur des Erzählers, der als enger Vertrauter Dupins fungiert, aber selbst keine eigenständigen Ermittlungen unternimmt. Er dient als Vermittler zwischen Dupins überlegenem Intellekt und der Leserschaft. Indem er staunend und bewundernd auf Dupin blickt, spiegelt er die Reaktion des Lesers. Gleichzeitig ist er der Repräsentant des „durchschnittlichen“ Menschen, der sich anfangs von der Unerklärlichkeit einschüchtern lässt. Dupins Analyse schlägt hier eine Brücke: Der Leser erhält die Möglichkeit, nachzuvollziehen, wie Verstand, Phantasie und methodisches Denken Schritt für Schritt zur Lösung führen. Dupin selbst ist kein Beamter, kein offizieller Ermittler, sondern eine Art Privatgelehrter, der sich dem Fall intellektuell nähert. Das stellt den Detektiv als gesellschaftlichen Außenseiter vor, der frei von bürokratischen Zwängen rein nach Logik und Intuition vorgeht – ein späteres Leitmotiv für viele Detektivfiguren der Literaturgeschichte.
Mensch und Tier, Zivilisation und Natur
Die schockierende Auflösung, dass kein menschlicher Täter, sondern ein entflohener Orang-Utan für die grausamen Morde verantwortlich ist, lässt sich als Kontrast zwischen Zivilisation und Natur deuten. Während die gesamten Ermittlungen davon ausgehen, dass ein Mensch die Morde begangen hat, enthüllt die Lösung eine andere, archaische Gewalt. Poes Erzählung spielt somit mit einer tief verwurzelten Furcht: dem Einbruch des Animalischen, Unkontrollierten in die geordnete, städtisch-zivilisierte Welt. Auch hier wird jedoch klar: So erschreckend und irrational die Tat des Tieres auf den ersten Blick erscheint, letztlich ist sie ein natürliches Ereignis. Es handelt sich nicht um ein übernatürliches Phänomen, sondern um eine Folge fehlgeleiteter Instinkte. Damit zeigt Poe, dass das Unheimliche nicht jenseits der Natur liegt, sondern im Unbekannten, im nicht Verstandenen der eigenen Wirklichkeit.
Fazit: Intellektuelle Kontrolle über das Geheimnis
„Der Doppelmord in der Rue Morgue“ kann als poetisches Manifest der Vernunft gelesen werden. Poe demonstriert, dass selbst das grausamste und scheinbar unauflösliche Rätsel logisch geklärt werden kann, sofern man sich der richtigen Methode bedient. Die Geschichte ist weniger an sozialer Gerechtigkeit oder moralischer Empörung interessiert, sondern an der Leistung des menschlichen Geistes, der in der Lage ist, aus einem scheinbar unlösbaren Geheimnis Sinn und Ordnung zu erschaffen. Damit legt Poe den Grundstein für das Detektivgenre, in dem Verbrechen nicht nur als moralischer Missstand, sondern als intellektuelle Herausforderung begriffen werden. Der erste Detektiv der Literatur, Dupin, zeigt, dass das Rätselhafte durch systematisches Denken und die richtige Perspektive entschlüsselt werden kann – ein Credo, das in zahlreichen späteren Kriminalerzählungen nachhallen wird.