Schweigen

Bild zeigt Edgar Allan Poe
von Edgar Allan Poe

Es gibt Begriffe, Dinge körperlos,
Urbilder jener Zwillingswesenheit,
Welcher der urzeitliche Schöpferschoß
Von Stoff und Geist Gestalt und Leben leiht.
Es gibt ein zwiefach Schweigen – Meer und Strand –
Seele und Leib. Das eine wohnt fernab
An einem Orte, den die ernste Hand
Gütiger Huldinnen mit Grün umgab.
Ein treu Gedenken waltet darum her
Und mildert seinen Ernst, nimmt ihm das Grau’n.
Es trägt den dunklen Namen: „Nimmermehr!“
O fürcht’ es nicht, du kannst dich ihm vertraun.
Doch wenn sein Schatten, der im Reich der Lethe
Als finstrer, namenloser Elfe weilt,
Dich vor der Zeit und unverhofft ereilt,
Dann bete!

Veröffentlicht / Quelle: 
Poe, Edgar Allan. Ausgewählte Gedichte. 1. Auflage. Verlag des Bibliographischen Bureaus, 1891. S. 35

Gedichtanalyse: „Schweigen“ von Edgar Allan Poe

Einleitung

Das Gedicht „Schweigen“ („Silence“) von Edgar Allan Poe ist ein faszinierendes Werk, das sich mit den Konzepten von Stille, Dualität und Vergänglichkeit beschäftigt. Poe, bekannt für seine düsteren und symbolträchtigen Werke, lotet in diesem Gedicht die Grenzbereiche zwischen Leben und Tod, Geist und Materie sowie das metaphysische Spannungsfeld zwischen Innerlichkeit und äußerer Realität aus. Die folgende Analyse beleuchtet den Inhalt, die Form, die sprachlichen Mittel und die philosophischen Dimensionen dieses Gedichts.


Inhaltliche Analyse

Das Gedicht thematisiert die Dualität des Schweigens: Es gibt eine physische Dimension, dargestellt durch das Meer und den Strand, und eine metaphysische Dimension, die Seele und Leib umfasst. Diese Dualität ist Ausdruck der Zwillingsnatur von Stoff und Geist, die durch Poes Symbolik immer wieder hervorgehoben wird. Das Schweigen erscheint hier nicht nur als Abwesenheit von Klang, sondern als eine mächtige, allumfassende Kraft, die sowohl Trost als auch Bedrohung bringen kann.

  • Das „freundliche“ Schweigen: Dieses Schweigen ist mit einem Ort verbunden, der mit grüner Natur umgeben ist und den Namen „Nimmermehr“ trägt. Es steht für ein gedämpftes, melancholisches Gedenken, das Trost spenden kann und weniger furchterregend erscheint.
  • Das „bedrohliche“ Schweigen: Dieses Schweigen ist ein Schatten, der aus dem Reich der Lethe, dem Fluss des Vergessens in der griechischen Mythologie, hervorgeht. Es wird als dunkle, namenlose Elfe personifiziert, die unverhofft auftaucht und das Leben bedroht.

Die beiden Formen des Schweigens verdeutlichen die Ambivalenz des menschlichen Daseins, in dem Trost und Schrecken oft nah beieinander liegen.


Formale Analyse

  1. Struktur: Das Gedicht besteht aus zwei miteinander verbundenen Strophen mit insgesamt 15 Versen. Die klare Zweiteilung unterstützt die thematische Gegenüberstellung der beiden Formen des Schweigens.

  2. Reimschema: Das Reimschema folgt einem klassischen Muster (abab cdcd efef gg), das typisch für Sonette ist. Die regelmäßige Struktur gibt dem Gedicht eine gewisse formale Geschlossenheit, die die Kontraste inhaltlich umso stärker hervortreten lässt.

  3. Metrum: Das Gedicht ist überwiegend im fünfhebigen Jambus gehalten, was ihm einen fließenden, gleichmäßigen Rhythmus verleiht. Diese Metrik ist typisch für Poes Werke und unterstützt den meditativen Ton des Gedichts.

  4. Sprachrhythmus: Der Wechsel zwischen längeren, fließenden Zeilen und kürzeren, prägnanten Ausrufen (z. B. „Dann bete!“) verstärkt die emotionale Intensität des Textes.


Sprachliche Mittel

  1. Dualismus und Antithesen: Der Gegensatz zwischen den beiden Schweigen („Meer und Strand“, „Seele und Leib“) wird durch klare Antithesen hervorgehoben. Dies betont die zentrale Idee der Dualität, die Poes Werke häufig durchzieht.

  2. Symbolik:

    • „Meer“ und „Strand“: Diese Metaphern symbolisieren die Trennung zwischen Unendlichkeit und Begrenztheit, zwischen Geist und Körper.
    • „Nimmermehr“: Dieser Begriff ist in Poes Werk ikonisch, insbesondere in „Der Rabe“ (The Raven). Hier steht er für die Unerreichbarkeit und Endgültigkeit der Vergangenheit.
    • „Lethe“: Die mythologische Anspielung auf den Fluss des Vergessens verstärkt das Motiv der Vergänglichkeit und des unwiderruflichen Verlustes.
  3. Personifikation: Das Schweigen wird als „namenlose Elfe“ personifiziert, was ihm eine unheimliche, fast übernatürliche Präsenz verleiht.

  4. Wiederholungen und Parallelismen: Wiederholungen wie „Ort und Zeit“ oder „Meer und Strand“ schaffen eine rhythmische Struktur und verstärken die meditative Wirkung des Gedichts.

  5. Aufforderung zur Handlung: Die abschließende Aufforderung „Dann bete!“ verleiht dem Gedicht eine religiöse Dimension, die Poe oft in seinen Werken einfließen lässt. Sie zeigt die Hilflosigkeit des Menschen angesichts der metaphysischen Kräfte, die ihn umgeben.


Interpretation

Das Gedicht „Schweigen“ ist eine tiefgründige Meditation über die Dualität von Existenz und Vergänglichkeit. Die beiden Formen des Schweigens stehen symbolisch für die Ambivalenz des Lebens: Einerseits Trost und Erinnerung, andererseits Vergessen und Tod. Die philosophische Dimension des Textes verweist auf Poes Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit des Menschen und der Unfassbarkeit des metaphysischen Seins.

Die mythologische Anspielung auf Lethe sowie die Verwendung von Begriffen wie „Nimmermehr“ verweben das Gedicht mit universellen Themen der Literaturgeschichte, während die Personifikation des Schweigens eine beinahe greifbare Intensität verleiht. Das Gedicht fordert den Leser auf, die Grenzbereiche zwischen Leben und Tod, zwischen Trost und Schrecken zu reflektieren.


Schluss

Edgar Allan Poes „Schweigen“ ist ein vielschichtiges Werk, das durch seine formale Eleganz und sprachliche Tiefe besticht. Es verbindet Poes typische Themen wie Tod, Vergänglichkeit und Transzendenz mit einer einzigartigen Symbolik, die den Leser sowohl emotional berührt als auch intellektuell fordert. Das Gedicht bleibt ein beeindruckendes Beispiel für Poes Fähigkeit, philosophische und existenzielle Fragen in eine poetische Form zu gießen, die gleichermaßen zeitlos und bewegend ist.

 

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