Übersetzer: Hedwig Lachmann (1865-1918)
Eines Nachts aus gelben Blättern mit verblichnen Runenlettern
Tote Mären suchend, sammelnd, von des Zeitenmeers Gestaden,
Müde in die Zeilen blickend und zuletzt im Schlafe nickend,
Hört’ ich plötzlich leise klopfen, leise doch vernehmlich klopfen
Und fuhr auf erschrocken stammelnd: „Einer von den Kameraden,“
„Einer von den Kameraden!“
In dem letzten Mond des Jahres, um die zwölfte Stunde war es,
Und ein wunderlich Rumoren klang mir fort und fort im Ohre,
Sehnlichst harrte ich des Tages, jedes neuen Glockenschlages,
In das Buch vor mir versenken wollt’ ich all mein trüb’ Gedenken,
Meine Träume von Lenoren, meinen Schmerz um Leonore,
Um die tote Leonore.
Seltsame, phantastisch wilde, unerklärliche Gebilde,
Schwarz und dicht gleich undurchsicht’gen, nächtig dunklen Nebelschwaden
Huschten aus den Zimmerecken, füllten mich mit tausend Schrecken,
So daß ich nun bleich und schlotternd, immer wieder angstvoll stotternd,
Murmelte, mich zu beschwicht’gen: „Einer von den Kameraden,“
„Einer von den Kameraden!“
Alsbald aber mich ermannend, fragt’ ich jede Scheu verbannend,
Wen der Weg noch zu mir führe: Mit wem habe ich die Ehre,
Hub ich an weltmännisch höflich, Sie verzeihen, ich bin sträflich,
Daß ich Sie nicht gleich vernommen, seien Sie mir hochwillkommen,
Hiemit öffnet’ ich die Türe – nichts als schaudervolle Leere,
Schwarze, schaudervolle Leere.
Lang in dieses Dunkel starrend, stand ich fürchtend, stand ich harrend,
Fürchtend, harrend, zweifelnd, staunend, meine ganze Seel’ im Ohre –
Doch die Nacht blieb ungelichtet, tiefes Schwarz auf Schwarz geschichtet,
Und das Schweigen ungebrochen, und nichts weiter ward gesprochen,
Als das Eine flüsternd, raunend: das gehauchte Wort „Leonore“,
Das ich flüsterte: „Leonore!“
In mein Zimmer wiederkehrend und zum Sessel flüchtend, während
Schatten meinen Blick umflorten, hörte ich von neuem klopfen,
Diesmal aber etwas lauter, gleichsam kecker und vertrauter.
An dem Laden ist es, sagt’ ich, und mich zu erheben wagt’ ich,
Sprach mir Mut zu mit den Worten: Sicher sind es Regentropfen,
Weiter nichts als Regentropfen.
Und ich öffnete: Bedächtig schritt ein Rabe groß und nächtig
Mit verwildertem Gefieder ins Gemach und gravitätisch
Mit dem ernsten Kopfe nickend, flüchtig durch das Zimmer blickend,
Flog er auf das Türgerüste und auf einer Pallasbüste
Ließ er sich gemächlich nieder, saß dort stolz und majestätisch,
Selbstbewußt und majestätisch.
Ob des herrischen Verfahrens und des würdigen Gebarens
Dieses wunderlichen Gastes schier belustigt, sprach ich: Grimmer
Unglücksbote des Gestades an dem Flußgebiet des Hades,
Du bist sicher hochgeboren, kommst du gradewegs von den Toren
Des plutonischen Palastes? Sag’ wie nennt man dich dort? „Nimmer“
Hört’ ich da vernehmlich: „Nimmer!“
Wahrlich, ich muß eingestehen, daß mich seltsame Ideen
Bei dem dunklen Wort durchschwirrten, ja, daß mir Gedanken kamen,
Zweifel vom bizarrsten Schlage, – und es ist wohl keine Frage,
Daß dies wunderlich Begebnis ein vereinzeltes Erlebnis:
Einen Raben zu bewirten mit solch ominösem Namen,
Solchem ominösen Namen.
Doch mein düsterer Gefährte sprach nichts weiter und gewährte
Mir kein Zeichen der Beachtung. Lautlos stille ward’s im Zimmer,
Bis ich traumhaft, abgebrochen (halb gedacht und halb gesprochen)
Raunte: Andre Freunde gingen, morgen hebt auch er die Schwingen,
Läßt dich wieder in Umnachtung. Da vernahm ich deutlich „Nimmer“,
Deutlich und verständlich: „Nimmer“.
Stutzig über die Repliken, maß ich ihn mit scheuen Blicken,
Sprechend: Dies ist zweifelsohne sein gesammter Schatz an Worten,
Einem Herren abgefangen, dem das Unglück nachgegangen,
Nachgegangen, nachgelaufen, bis er auf dem Trümmerhaufen
Seines Glücks dies monotone „Nimmer“ seufzte allerorten.
Jederzeit und allerorten.
Doch der Rabe blieb possierlich würdevoll und unwillkürlich
Mußt’ ich lächeln ob des Wichtes: Aldann mitten in das Zimmer
Einen samtnen Sessel rückend und mich in die Polster drückend,
Sann ich angesichts des grimmen, dürren, ominösen, schlimmen
Künders göttlichen Gerichtes, über dieses dunkle „Nimmer“,
Dieses rätselhafte „Nimmer“.
Dies und anderes erwog ich, in die Traumeslande flog ich,
Losgelöst von jeder Fessel. Von der Lampe fiel ein Schimmer
Auf die violetten Stühle und auf meinem sammt’nen Pfühle
Lag ich lange, traumverloren, schwang mich auf zu Leonoren,
Die in diesen samtnen Sessel nimmermehr sich lehnet, nimmer,
Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer.
Plötzlich ward es in mir lichter, und die Luft im Zimmer dichter,
Als ob Weihrauch sie durchwehte. Und an diesem Hoffnungsschimmer
Mich erwärmend, rief ich: Manna, Manna, schickst du Gott, Hosianna!
Lob ihm, der dir Gnade spendet, der dir seine Engel sendet,
Trink’, o trink’ aus dieser Lethe und vergiß Lenore! „Nimmer“,
Krächzte da der Rabe „Nimmer“.
„Nachtprophet, erzeugt vom Zweifel, seist du Vogel oder Teufel,
Triumphierend ob der Sünder Zähneklappern und Gewimmer –
Hier aus dieser dürren Wüste, dieser Stätte geiler Lüste,
Hoffnungslos, doch ungebrochen und noch rein und unbestochen,
Frag’ ich dich, du Schicksalskünder: Ist in Gilead Balsam?“ „Nimmer“,
Krächzte da der Rabe „Nimmer“.
„Nachtprophet, erzeugt vom Zweifel, seist du Vogel oder Teufel,
Bei dem göttlichen Erbarmen, lösch nicht diesen letzten Schimmer!
Sag’ mir, find ich nach dem trüben Erdenwallen einst dort drüben
Sie, die von dem Engelschore wird geheißen Leonore?
Werd ich sie dort nicht umarmen, meine Leonore? „Nimmer“,
Krächzte da der Rabe „Nimmer“.
Feind, du lügst, heb’ dich von hinnen, schrie ich auf beinah von Sinnen,
Dorthin zieh’, wo Schatten wallen unter Winseln und Gewimmer,
Kehr’ zurück zum dunklen Strande, laß kein Federchen zum Pfande
Dessen, was du prophezeitest, daß du diesen Ort entweihtest,
Nimm aus meiner Brust die Krallen, hebe dich von hinnen! „Nimmer“,
Krächzte da der Rabe „Nimmer“.
Und auf meinem Türgerüste, auf der bleichen Pallasbüste,
Unverdrossen, ohn’ Ermatten sitzt mein dunkler Gast noch immer.
Sein Dämonenauge funkelt und sein Schattenriß verdunkelt
Das Gemach, schwillt immer mächt’ger und wird immer grabesnächtger –
Und aus diesem schweren Schatten hebt sich meine Seele nimmer –
Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer. –
Gedichtanalyse: „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe
Einleitung
The Raven (Der Rabe), 1845 veröffentlicht, zählt zu den bekanntesten Werken Edgar Allan Poes und gehört zu den bedeutendsten Gedichten der amerikanischen Literatur. Das lyrische Werk verbindet Themen wie Verlust, Trauer, Wahnsinn und die Suche nach Bedeutung in einer düsteren, melancholischen Atmosphäre. Die Analyse beleuchtet Inhalt, Form, sprachliche Mittel und die symbolische Bedeutung des Gedichts.
Inhaltliche Analyse
Das Gedicht erzählt von einem Mann, der in einer stürmischen Nacht allein in seinem Zimmer sitzt, trauert und über den Verlust seiner geliebten Lenore grübelt. Ein mysteriöser Rabe fliegt herein und lässt sich auf einer Büste der Pallas Athene nieder. Auf die wiederholte Frage des Mannes, ob er Lenore im Jenseits wiedersehen wird, antwortet der Rabe nur mit dem Wort „Nevermore“ (Niemals). Diese Antwort treibt das lyrische Ich zunehmend in den Wahnsinn, da es darin eine endgültige Verneinung seiner Hoffnungen sieht.
Der Rabe symbolisiert in seiner Unbarmherzigkeit die Unausweichlichkeit von Verlust und die Verzweiflung des Menschen, der keine Antwort auf seine existenziellen Fragen erhält. Das Gedicht endet in völliger Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit, da der Mann erkennt, dass der Rabe für immer bei ihm bleiben wird, ein ständiger Begleiter seines Schmerzes.
Formale Analyse
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Struktur und Metrik
- Das Gedicht besteht aus 18 Strophen mit jeweils sechs Versen. Es folgt einem strengen Metrum, dem Trochäus, was eine rhythmische, fast hypnotische Wirkung erzeugt.
- Das Reimschema (ABCBBB) verstärkt den musikalischen Charakter des Gedichts und die wiederkehrende Endung „Nevermore“ wirkt wie ein Refrain, der den monotonen und hoffnungslosen Ton unterstreicht.
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Klang und Rhythmus
- Poe nutzt bewusst Assonanzen, Alliterationen und interne Reime, um die Melancholie und Spannung der Atmosphäre zu intensivieren. Der Rhythmus ahmt den Herzschlag und die steigende Erregung des lyrischen Ichs nach.
Sprachliche Mittel
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Symbolik
- Der Rabe: Symbolisiert Tod, Unheil und die ewige Dunkelheit. Als Vogel der Nacht wird er zum Vorboten von Hoffnungslosigkeit.
- Pallas Athene: Die Büste der Göttin der Weisheit steht im Kontrast zur Unvernunft und zum Wahnsinn des lyrischen Ichs.
- Lenore: Sie verkörpert die ideale Liebe und die Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem.
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Wiederholung
- Das Wort „Nevermore“ ist ein zentraler Bestandteil des Gedichts und unterstreicht die Hoffnungslosigkeit. Die wiederholte Frage-Antwort-Struktur vertieft die Verzweiflung des lyrischen Ichs.
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Alliteration und Assonanz
- Beispiel: „Doubting, dreaming dreams no mortal ever dared to dream before.“ Diese klanglichen Mittel schaffen eine düstere, eindringliche Atmosphäre.
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Personifikation und Metapher
- Der Rabe wird als weise und unheilbringend dargestellt. Seine Fähigkeit zu sprechen wird metaphorisch für die unerbittliche Stimme des Schicksals oder des Gewissens genutzt.
Interpretation
Das Gedicht thematisiert die Unfähigkeit, mit Verlust umzugehen, und die zerstörerische Wirkung von Trauer. Der Rabe dient als Katalysator für den inneren Konflikt des lyrischen Ichs, das zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt. Das Wort „Nevermore“ ist ein Symbol für die Unbarmherzigkeit des Schicksals und die Endgültigkeit des Todes.
Der Rabe könnte auch als Projektion des Wahnsinns interpretiert werden, der die Gedanken des Mannes dominiert. Die düstere Atmosphäre und die sich steigernde Verzweiflung des lyrischen Ichs machen das Gedicht zu einem Meisterwerk der psychologischen Lyrik.
Darüber hinaus spiegelt das Gedicht Poes Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit wider, Themen, die durch persönliche Verluste in seinem eigenen Leben geprägt sind. Die metaphorische und symbolische Tiefe von The Raven hat es zu einem universellen Werk gemacht, das Fragen nach Trauer, Schuld und dem Sinn des Lebens aufwirft.
Schluss
Der Rabe ist ein vielschichtiges Gedicht, das durch seine klangliche Perfektion, die dichte Symbolik und die universellen Themen von Verlust und Verzweiflung besticht. Poe zeigt in diesem Werk nicht nur seine literarische Meisterschaft, sondern auch seine Fähigkeit, die Abgründe der menschlichen Seele darzustellen. Das Gedicht bleibt ein zeitloses Beispiel für die Verbindung von Form und Inhalt in der Lyrik.