Der Doppelmord in der Rue Morgue - Page 11

Bild zeigt Edgar Allan Poe
von Edgar Allan Poe

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ich ahnte, worauf er hinzielte. Mir war ungefähr so zumute, wie wenn man sich auf etwas besinnt, an das man sich nicht genau erinnern kann.

Mein Freund fuhr fort:

»Sie sehen«, sagte er, »daß ich mich zunächst mit der Frage beschäftigt habe, wie der Mörder in das Haus eingedrungen sei, um danach die Art seiner Flucht festzustellen. Ich wünsche Sie davon zu überzeugen, daß er an derselben Stelle herein- und herausgekommen sein muß. Betrachten wir uns nun das Innere des Zimmers. Man behauptet, die Schubladen des Sekretärs seien ausgeplündert worden, während tatsächlich eine Menge von Schmuck- und anderen Gegenständen darin gefunden wurde. Wie können wir es wissen, ob nicht die noch in den Schubfächern befindlichen Dinge wirklich alles waren, was die Damen darin aufzubewahren pflegten? Frau L'Espanaye und ihre Tochter führten ein sehr zurückgezogenes Leben – empfingen keine Besuche, gingen selten aus –, sie hatten wenig Gelegenheit, Toilette zu machen und Schmuck zu tragen. Das, was sich an Bekleidungs- und Putzgegenständen vorfand, war alles gediegen und von feinster Qualität, wie sich das kaum anders erwarten ließ. Wenn ein Dieb einen Teil dieser Sachen gestohlen hatte, warum nahm er nicht die wertvollsten, warum nahm er nicht alles? Mit einem Wort: warum ließ er 4000 Frank in Gold zurück, um sich vielleicht mit einem Bündel getragener Kleider davonzumachen? Das Gold ist zurückgeblieben. Beinahe die ganze vom Bankier Mignaud erwähnte Summe wurde in zwei Beuteln auf dem Fußboden gefunden. Ich möchte gern, Sie ließen die irrtümliche Annahme, daß irgendein Motiv zu dieser Tat vorliege, ganz fahren. Jene alberne Idee ist nur deshalb im Kopf der Polizeiorgane entstanden, weil durch Zeugenaussage festgestellt wurde, daß Geld an der Tür abgeliefert worden war. Nun treffen doch wirklich zu jeder Zeit unseres Lebens zehnmal merkwürdigere Umstände zusammen als der, daß Geld abgeliefert und der Empfänger drei Tage darauf ermordet wurde, ohne daß wir uns weiter damit beschäftigten. Über ein solches Zusammentreffen von Umständen stolpern nur jene schlecht geschulten Denker, die von der Wahrscheinlichkeitstheorie nichts wissen, obwohl die Wissenschaft gerade dieser Theorie manche ruhmvolle Errungenschaft verdankt. Wäre in vorliegendem Fall das Geld verschwunden gewesen, so würde die Tatsache, daß es erst vor drei Tagen abgeliefert worden war, mehr als ein bloßer Zufall sein und schwer ins Gewicht fallen. Sie würde uns in dem Gedanken bestärken, daß hier das Motiv der Tat zu suchen sei. Wenn wir aber unter den obwaltenden Umständen das Gold als Motiv für die Gewalttat gelten lassen wollen, so müssen wir notwendig zu dem Schluß kommen, daß der Mörder ein wankelmütiger Idiot war, der Motiv und Gold im Stich gelassen hat.

Während wir nun die Punkte, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit gelenkt habe, fest im Auge behalten – ich meine also die sonderbare Stimme, die außergewöhnliche Behendigkeit des mutmaßlichen Täters, vor allem aber die Tatsache, daß jedes Motiv zu den gräßlichen Mordtaten fehlt –, wollen wir einen Blick auf die Metzelei selbst werfen. Ein junges Mädchen ist mit den Händen erdrosselt und dann mit dem Kopf nach unten mit brutaler Gewalt in den Kamin hineingepreßt worden. Gewöhnliche Mörder werden ganz gewiß niemals eine solche Todesart in Anwendung bringen, am allerwenigsten werden sie ihr Opfer in einer solchen Weise zu verbergen suchen. Sie werden zugeben, daß in der Art, wie die Leiche in den Kamin hineingezwängt wurde, etwas so unerhört Scheußliches liegt, daß es sich mit unseren üblichen Begriffen von menschlichem Tun und Lassen nicht vereinigen läßt, selbst dann nicht, wenn wir annehmen, daß die Missetäter ganz entmenschte Bösewichter waren. Bedenken Sie ferner, welche Kraft dazu nötig war, die Leiche in eine so enge Öffnung hinaufzustoßen, daß es der vereinten Anstrengungen mehrerer Personen bedurfte, um sie wieder herabzuziehen.

Es ist dies übrigens nicht das einzige Zeichen dafür, daß hier eine fast übermenschliche Kraft im Spiel gewesen ist. Auf dem Herd lagen dicke Strähnen – sehr dicke Strähnen grauen Menschenhaares, die mit den Wurzeln ausgerissen waren. Sie wissen, daß schon eine ziemliche Kraftanstrengung dazu gehört, um nur zwanzig bis dreißig Haare zusammen aus dem Kopf zu reißen. Sie haben diese Haarsträhnen ebensogut gesehen wie ich. Es war ein scheußlicher Anblick. An den Wurzeln hingen noch Stückchen der Kopfhaut, ein sicheres Zeichen der übermenschlichen Kraft, die angewendet wurde, um vielleicht mehrere tausend Haare auf einmal auszureißen. Der Hals der alten Dame war durchschnitten, mehr noch: der Kopf war fast ganz vom Rumpf getrennt, und zwar offenbar mit einem Rasiermesser. Ich bitte Sie, die ganz tierische Roheit zu beachten, mit der diese Taten ausgeführt wurden. Von den vielen Verletzungen und Quetschwunden an Frau L'Espanayes Leiche will ich nicht reden. Herr Dumas und sein Kollege haben ja beide ausgesagt, daß sie von einem stumpfen Gegenstand herrührten; nun, in gewisser Beziehung haben die Herren da recht. Der stumpfe Gegenstand war das Steinpflaster des Hofes, auf den das Opfer aus dem vierten Stockwerk hinabgeworfen wurde, und zwar durch das Fenster, vor dem das Bett steht. So einfach diese Annahme uns jetzt erscheint, so entging sie der Polizei aus demselben Grund, aus dem sie die Breite der Fensterläden nicht bemerkt hatte, weil nämlich die bewußten Nägel ihren Kopf derartig vernagelt hatten, daß sie es für unmöglich hielt, daß die Fenster doch vielleicht geöffnet worden seien.

Wenn wir nun noch der im Zimmer herrschenden wüsten Unordnung gedenken und uns ferner der erstaunlichen Behendigkeit, der übermenschlichen Stärke und tierischen Roheit erinnern, mit der diese grundlosen Verbrechen in geradezu bizarrer Scheußlichkeit ausgeführt wurden – wenn wir jene schrille Stimme in Erwägung ziehen, deren Klang den Ohren vieler Zeugen der verschiedensten Nationalität fremd war, welcher Gedanke drängt sich Ihnen da auf? Welchen Schluß ziehen Sie aus so viel Tatsachen?« – Ich fühlte, als Dupin diese Frage an mich stellte, wie mich ein Schauder durchrieselte. »Nur ein Wahnsinniger«, sagte ich, »kann diese Tat vollbracht haben, ein Tobsüchtiger, der aus der benachbarten Irrenanstalt entsprungen ist.«

»In gewisser Beziehung«, antwortete er, »ist Ihr Verdacht vielleicht nicht unbegründet. Aber die Stimme Wahnsinniger, selbst wenn sie Tobsuchtsanfälle haben, gleicht in keinem Fall jener eigentümlich schrillen Stimme, die auf der Treppe vernommen worden ist. Ein Wahnsinniger gehört doch irgendeiner Nation an, und wenn der Sinn seiner Rede noch so

Veröffentlicht / Quelle: 
Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 3: Verbrechergeschichte. Herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922]. Erstdruck in: Graham's Magazine, April 1841.

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Interpretation von Edgar Allan Poes „Der Doppelmord in der Rue Morgue“

Edgar Allan Poes 1841 veröffentlichte Erzählung „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ gilt als ein Grundstein der modernen Detektivgeschichte. In ihr werden wesentliche Elemente eines Genres sichtbar, dessen Ausformung und Konventionen weit über das 19. Jahrhundert hinaus Bedeutung erlangten. Bereits die Verwendung eines genialen, deduktiv vorgehenden Ermittlers – Auguste Dupin – sowie das Moment des schier Unmöglichen, des von innen verriegelten Tatorts (Locked-Room-Mystery), prägen die narrative Struktur und die späteren Entwicklungen der Kriminalliteratur. Die Erzählung ist damit nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch ein programmatisches Werk, in dem Poe das rätselhafte Verbrechen als intellektuelles Spielfeld darstellt, auf dem sich die Macht der Logik gegenüber dem scheinbar Unbegreiflichen behaupten muss.

Rationalität vs. Schrecken und Sensation

Eine zentrale interpretative Spur liegt in Poes Gegenüberstellung von rationalem Denken und sensationsgieriger Faszination am Unheimlichen. Die Pariser Gesellschaft reagiert entsetzt und verwirrt auf den grausamen Mord an Mutter und Tochter, der sich in einem verschlossenen Zimmer im vierten Stock abspielt. Während die Öffentlichkeit – inklusive der Polizei – geneigt ist, sich in Gerüchten und vermeintlich übernatürlichen Erklärungen zu verlieren, setzt Dupin auf kühle, logische Analyse. Diese Haltung spiegelt Poes Skepsis gegenüber den rein emotionalen, irrlichtenden Reaktionen der Menge wider. Zugleich zeigt sich hier die aufklärerische Geisteshaltung, wonach auch die seltsamsten Phänomene mit scharfem Verstand verstanden, wenn nicht sogar restlos erklärt werden können. Der Durchbruch der Rationalität durch den Schleier des Makaberen wird zur intellektuellen Herausforderung, die über das bloße Erzählen von Schrecken hinausgeht.

Das Motiv der abgeschlossenen Räume (Locked-Room-Mystery)

Der vermeintlich „unmögliche“ Mord in einem verschlossenen Raum steht symbolisch für den hermetischen Raum der menschlichen Psyche oder des Geheimnisses selbst. Der Leser begegnet einer Situation, die zunächst alle konventionellen Erklärungsansätze sprengt. Das verschlossene Zimmer wird zum Sinnbild für Rätselhaftigkeit – und letztlich zur Bühne, auf der die Vernunft ihre Brillanz beweisen kann. Indem Dupin die Indizien ordnet, die Widersprüche der Zeugenaussagen erkennt und die Spur akribisch verfolgt, zeigt Poe, dass auch ein scheinbar übermenschliches Verbrechen durch folgerichtige Analyse entschlüsselt werden kann. Diese Idee ist zukunftsweisend: Das Locked-Room-Szenario wird später ein beliebtes Muster in der Detektivliteratur, ein Schauplatz, an dem der menschliche Verstand seine Überlegenheit über das Mysteriöse behauptet.

Die Rolle des Erzählers und die Figur Dupins

Bemerkenswert ist die Figur des Erzählers, der als enger Vertrauter Dupins fungiert, aber selbst keine eigenständigen Ermittlungen unternimmt. Er dient als Vermittler zwischen Dupins überlegenem Intellekt und der Leserschaft. Indem er staunend und bewundernd auf Dupin blickt, spiegelt er die Reaktion des Lesers. Gleichzeitig ist er der Repräsentant des „durchschnittlichen“ Menschen, der sich anfangs von der Unerklärlichkeit einschüchtern lässt. Dupins Analyse schlägt hier eine Brücke: Der Leser erhält die Möglichkeit, nachzuvollziehen, wie Verstand, Phantasie und methodisches Denken Schritt für Schritt zur Lösung führen. Dupin selbst ist kein Beamter, kein offizieller Ermittler, sondern eine Art Privatgelehrter, der sich dem Fall intellektuell nähert. Das stellt den Detektiv als gesellschaftlichen Außenseiter vor, der frei von bürokratischen Zwängen rein nach Logik und Intuition vorgeht – ein späteres Leitmotiv für viele Detektivfiguren der Literaturgeschichte.

Mensch und Tier, Zivilisation und Natur

Die schockierende Auflösung, dass kein menschlicher Täter, sondern ein entflohener Orang-Utan für die grausamen Morde verantwortlich ist, lässt sich als Kontrast zwischen Zivilisation und Natur deuten. Während die gesamten Ermittlungen davon ausgehen, dass ein Mensch die Morde begangen hat, enthüllt die Lösung eine andere, archaische Gewalt. Poes Erzählung spielt somit mit einer tief verwurzelten Furcht: dem Einbruch des Animalischen, Unkontrollierten in die geordnete, städtisch-zivilisierte Welt. Auch hier wird jedoch klar: So erschreckend und irrational die Tat des Tieres auf den ersten Blick erscheint, letztlich ist sie ein natürliches Ereignis. Es handelt sich nicht um ein übernatürliches Phänomen, sondern um eine Folge fehlgeleiteter Instinkte. Damit zeigt Poe, dass das Unheimliche nicht jenseits der Natur liegt, sondern im Unbekannten, im nicht Verstandenen der eigenen Wirklichkeit.

Fazit: Intellektuelle Kontrolle über das Geheimnis

„Der Doppelmord in der Rue Morgue“ kann als poetisches Manifest der Vernunft gelesen werden. Poe demonstriert, dass selbst das grausamste und scheinbar unauflösliche Rätsel logisch geklärt werden kann, sofern man sich der richtigen Methode bedient. Die Geschichte ist weniger an sozialer Gerechtigkeit oder moralischer Empörung interessiert, sondern an der Leistung des menschlichen Geistes, der in der Lage ist, aus einem scheinbar unlösbaren Geheimnis Sinn und Ordnung zu erschaffen. Damit legt Poe den Grundstein für das Detektivgenre, in dem Verbrechen nicht nur als moralischer Missstand, sondern als intellektuelle Herausforderung begriffen werden. Der erste Detektiv der Literatur, Dupin, zeigt, dass das Rätselhafte durch systematisches Denken und die richtige Perspektive entschlüsselt werden kann – ein Credo, das in zahlreichen späteren Kriminalerzählungen nachhallen wird.

 

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