Möcht‘ mich erinnern…

Bild zeigt Monika Laakes
von Monika Laakes

Möcht‘ mich erinnern an jene Gassen
aus plattgewalzter Erde, wo der Wind
seinen staubigen Tanz drehte, erinnern
an straßendeckende Träume aus Linien,
geheimen Zeichen, geschaffen von
Kinderhand, mit abgerissenen Zweigen
gezogen, erinnern an Wünsche, die Quadrate
in Zimmer verwandeln, an eins, zwei, drei
ins Bad geworfene Hinkelsteine, an gewagte
Sprünge nach vorn, Landen auf’m
Quadrat Utopia, getüncht mit
schwarz-rot-gold’ner Farbe.
Da hockte ein Adler
noch flügellahm. Er blickte empor.
Der Himmel schien weit.

Möcht‘ mich erinnern an jenes Unerreichbare
auf vier prallen, gummibereiften Rädern in
stillen Winkeln der Stadt, erinnern
an erlebnishungrige Knirpse, Grimasse schneidend
vor spiegelblanken Karossen, erinnern
an Schimpftiraden aus verborgenen Villen hinter
tausendäugigen Mauern, deren Blicke spürbar
die Haut ritzten, erinnern
an schnelle, sich entfernende Kinderfüße, Verstecke
suchend im Trümmerhaus.
Dort hockte der Prinz in Adlergestalt
und wartete auf den Erlösungskuss.
Er blickte empor, der Himmel
schien näher zu rücken.

Muss mich erinnern an jene einbeinigen Männer, deren
Krücken sich in den Boden krallten, erinnern
an Frauen, deren bunte Kopftücher fahle
Gesichter belebten, erinnern
an Lachen, Lachen, das durch schäbiggraue
Häuserzeilen drang wie ein Adrenalinstoss durch
welkes Fleisch, erinnern an
Kindchens winzigen Finger, der unermüdlich
Leben in die Luft malte, bis Worte
Bilder ersetzten, erinnern
an Geschichten vom Himmel, der uns
auf Erden beschieden sein soll.
Und da lachte der Adler
und streckte die Flügel. Er blickte
in das Kindergesicht. Und der Himmel
schien nahe genug.

Veröffentlicht / Quelle: 
Publ. 1997
Gedichtform: