Nicht auf die leichte Schulter ...

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Die Nebelfrau ging mit gerafften Schleiern
auf Zehenspitzen übern frühlingsfrischen Elbefluss …
Es war schon spät – und ich empfing im ersten Dämmer
des Tages letztes Sakrament und seinen Abschiedskuss.

Lag noch am Deichhang, unter mir: die schöne Elbeau.
Am Ufer wiegte sich das grüne Schilf zur Ruh …
Ein leises Zirpen tönte noch zu mir herüber;
die wilden Wiesenblumen neigten ihre Köpfchen
anmutig vor dem kühlen Abendtau.

Ich wollte heim, ich wollte unbedingt: Indes ...
mein hungrig Aug, es konnte sich nicht trennen ...
vom lichterlohen Horizont und von den weißen Schiffen,
vom allerletzten Abendrot, wie es begann,
sich in das müde Schilf des Ufers einzubrennen.

Es war der Ruf der schwarzen Amsel nicht, es rief
mit heller Stimme aus dem Fenster meine Frau Mama …
Über den Deichfirst drang zu mir leis ihre Seufzerklage:

„Erhebe dich und lasse dich zum Nachtmahl blicken!
Es gibt sonst, Kind, wie du längst wissen solltest
und auch weißt, wenn Papa heimkehrt und du bist
noch nicht zu Haus, ein schreckliches Familiendrama.
Ich bitte dich, erbarm dich meiner und erspar mir
heute Abend diesen hirnverbrannten Graus.“

Ich nahm 's mitnichten auf die leichte Schulter,
war längst aufgeschreckt und übern Deich gerannt.
Der abendliche Friede, ward mir schmerzlich klar,
lag heut wohl wieder mal in meiner kleinen Hand.

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