Ich und meine fünf Tibeter

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Immer noch Sommer – aber meine fünf Tibeter haben alle Kalender vernichtet. Draußen sei Mitte November, sagen sie. Das sei kein Wetter – für niemanden.

In Hannover war oft im Oktober noch Juni, während sich in Hamburg der Herbst ständig vor den Frühling zu mogeln pflegte. Aber ich drehte nichtsdestotrotz fast täglich meine Runden – bis zum Hauptbahnhof, am Puls des Lebens.

Meine Tibeter sind froh, wenn ich heimkehre von meinen Outdoor-Trips. „Erst wir“, schreit Zäg, Nr. 3, der gesprächigste von den fünf, „dann die Moral und zuletzt das Fressen."
„Ich fresse nicht, Zäg“, kläre ich ihn jedesmal auf.

Davon abgesehen, leben wir sehr harmonisch miteinander: „Zog, Zug, Zäg, Züg, Zag und ich“.

Sie stehen auf dem Standpunkt, ich solle mich ihnen öfter widmen, anderenfalls setze ich Fett an. – Ob ich das etwa wolle und verantworten könne, fragen sie mich im Chor. Ich verweigere die Antwort.
Das gleiche Theater bei Fisch. Ab und an esse ich Makrele oder ein wenig Aal wegen der Omega-3-Werte. Meine Tibeter werden dann regelrecht ausfallend und zeigen mir die „Rote Karte“: Ich dürfe das Wort „Vegetarierin“ nicht mehr in den Mund nehmen. In dieser Hinsicht sind sie außergewöhnlich streng.

„Dafür trinke ich keine Kuhmilch, meine Lieben“, sage ich dann, „und trage somit zur Pflege der Euter bei.“
Das wollen sie selbstverständlich nicht wahrhaben. Sie ignorieren meine Antworten selbst dann, wenn ich den Mund halte.

Waren Sie schon mal mit fünf Tibetern auf Reisen? Das ist der reinste Horror!
Ich stecke sie jedesmal in meine eingerollte Yoga-Matte; im Köfferchen ist meist kein Platz mehr.
Ständig stecken Zig und Zäg ihre Köpfe aus der Öffnung und lästern über mich, sogar in vollbesetzten Eisenbahnabteilen:

1. Sie hat wieder Fisch gefuttert …
2. Sie trägt schwarze Unterhemden, wenn überhaupt …
3. Sie spielt mit den Schmuddelkindern ...
4. Sie hört die Klingel nicht, wenn sie Kopfhörer trägt ...
5. Sie hört den Rauchmelder nicht, wenn sie Ohropax trägt ...
6. Sie trägt fast ständig Ohropax ...
7. Sie liest viel zu lange ...
8. Sie steht nicht sofort auf, wenn sie wach ist, sondern träumt stattdessen vor sich hin …
9. Sie putzt sich viel zu lange die Zähne und ist überhaupt einfach unmöglich ...

Das nervt. Die Mitreisenden starren mich jedesmal hasserfüllt an. Diese Blicke! Insbesondere Punkt 2, Punkt 3 und Punkt 8 scheinen zu empören, vorwiegend ältere Damen mit Haarteilen und falschen Augenbrauen.

Meistens klemme ich mir nach einer Weile die Yogamatte unter den Arm, wuchte mein Köfferchen von der Ablage und verziehe mich aufs Klo. Da dürfen sie rumschreiben, bis sie „schwarz“ werden.

Einmal, während einer langen Reise nach Esslingen zu meiner Tante Charlotte, mussten sie daheim bleiben, weil ich mich nicht mehr blamieren wollte. Das Theater war groß.
Ich wurde per Zeitungsaufruf gesucht. Meine fünf Tibeter hatten nach dem Baden vergessen, das Wasser abzustellen.
Die Stadt, welche ich damals mit meiner Anwesenheit beglückte, schwamm davon und dockte an Sylt an. Dort wollte ich schon immer mal wohnen, aber es wurde nichts draus: Meine Tibeter mussten in den Knast, während man mich in einen Container für Flüchtlinge steckte.

Jetzt wartet die Regierung darauf, dass er abgefackelt wird.

Das sei ein ganz neues Modell von Herrn Schäuble – zur Einsparung von Steuergeldern.

Darüber hinaus seien Gerichte vorwiegend mit Fällen befasst, die nicht mehr zu klären sind.

Mir ist das völlig schnurz. Ohne meine fünf Tibeter bin ich eh nur ein halber Mensch.

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