Ich weiß nicht, ob ich jemals einen Menschen vergessen habe, der mir begegnet ist … ich weiß es wirklich nicht.
Immer möchte ich mich erinnern – an euch, die ihr nicht mehr seid, euch zum Leben erwecken.
Den hochgewachsenen Mann möchte ich erinnern, den meine Mutter „schön“ nannte, meinen Onkel Rudolf; auch er hat uns nach dem Krieg ausfindig gemacht, um '52 rum, stand eines Morgens in unserer Küche, während ich in einer Ecke spielte – mit Puppengeschirr, kleinem Herd und winzigen Blechtöpfchen, darin Apfelstückchen in wenig Wasser schwammen.
Mein Vater, der zur Spätschicht musste, hatte sich noch kurz zuvor mir gegenüber auf dem Teppich niedergelassen, die kleinen Töpfchen an sich genommen und sich auf den Kopf gesetzt und damit hin- und herbalanciert und mit den Augen gerollt, um mich zu erheitern, während meine Mutter schimpfte, er solle den Unsinn unterlassen.
Stand plötzlich in unserer großen Küche, dieser große Onkel Rudolf – und die Gespräche nahmen ihren Lauf, interessante Gespräche über Krieg, Holocaust, Gefangenschaft, Flucht, Vertreibung, Zukunft und welche Verwandten und Bekannten seit Kriegsende nicht mehr auf dieser Erde weilten.
Ich sog jedes Wort auf – eine Verdurstende, nahm später alles mit in den Mittagsschlaf und in meine Träume, die dementsprechend heftig waren.
Oft erinnere ich auch dich, lieber Cousin aus dem Württembergischen mit dem schnellen Motorrad; auch dich sah ich nur ein einziges Mal für wenige Tage, dein schmales, sensibles Gesicht.
Du Ärmster, der auf jener unbequemen Besucherliege übernachten musste und zweimal herunterfiel, wieder aufstand, zweimal das verschmähte und verbotene Wort Sch... rief und erneut versuchte, in den Schlaf zu finden.
Ich lag die ganze Nacht wach und lauschte deinen unruhigen Atemzügen. Vier Tage, nachdem du uns verlassen hast, bist du verunglückt. Dein schnelles Motorrad fuhr dich in den Tod.
Gerne erinnere ich mich an deinen Vater, meinen Onkel Werner, den ich – leider – nur ein einziges Mal zu Gesicht bekam. Mitten in der Nacht und fast im Halbschlaf. – Aufgeregte, freudige Stimmen auf dem Flur. Ich wartete ab ... bis er endlich an mein Bett trat und mir liebevoll übers Haar strich – sein markantes Gesicht wirkt bis in die Gegenwart, obgleich mir sein plötzlicher Besuch noch heute wie geträumt im Gedächtnis haftet.
Auch er – für immer von uns gegangen – nach einem schweren Verkehrsunfall.
Die Adoptiveltern meines Vaters, die ihn, als er schon fast ein „großer Junge“ war, aus dem Waisenhaus zu sich nahmen und hernach noch viele eigene Kinder zeugten, auch sie kann ich nicht vergessen. Liebe Leute, die „ihren Fritz Karl Max“ nach dem Krieg gesucht und wiedergefunden haben.
Auch dich, Ernalein, liebes Tantchen, bleibst mir stets in guter Erinnerung, sehe dich von Zeit zu Zeit auf der Schwelle zu unserer Küche stehen, den Blick mal wieder ungläubig auf die schöne Elbe gerichtet (die du schon tausend Mal bei uns besichtigen konntest) – einen Tag vor meinem vierzehnten Geburtstag, unterm Arm das Geschenk:
„Ich spucke gegen den Wind“, ein Buch von Joan Lowell – das bei meiner Mutter für Empörung sorgte. Sie wollte es auf die Liste der verbotenen Bücher setzen lassen.
Danke, danke tausendmal, Erna. – Es war großartig.
Und – nun ja, ich spucke hin und wieder immer noch gegen den Wind; vielleicht siehst du es ja von oben, dort im Himmel, wo du jetzt weilst.
heute, 04.08.2017 geschrieben