Sardinien

Bild für das Profil von Heide Nöchel (noé)
von Heide Nöchel (noé)

Ich hab' Heimweh nach dir,
Land meiner ersten und einzigen Liebe,
das in unbewusstem Kindertraum ich sah,
wie ich es später mit eigenen Augen erblicken sollte.
Die Felsen so hoch und kühn,
ausgeblichen, weiß, wie Gebeine in der Sonne,
spärliches Grün, hart und müde,
wie mit Mehl bestäubt,
gelbe Blumen vereinzelt, die,
wie die Menschen,
sich nie ergeben.

Weites, verbranntes Land
mit schnurgeraden Straßen,
gelb, wo das Korn wächst,
grün, wo der Wein.
Überall Schafe
und gnadenlose Sonne,
warm auch die Kühle der Wäldchen am Berghang,
das Spiel von Licht und Schatten im Sand,
die Grillen zu träge zum Zirpen.

Pinien, Orangenbäume, Mandelhaine,
Korkeichen, Oliven, Mandarinen,
Kirschen - nie sah ich so prall -,
und an den Wegrändern
und zwischen den Feldern
überall Kakteen,
"Indische Feigen",
die ihre mohnroten Früchte
saftprall und stachelbewehrt
verschwenderisch darbieten.
Gestrüpp und Gesträuch
und überall Steine,
Steine und Staub.

Das Meer strandet sanft
oder nagt an den Felsen,
es funkelt und sprüht
im Licht heißer Sonne
und gischtet weiß
über glasiertes Gestein;
eine Ahnung von Kühle ist Illusion.
Was Flora und Fauna nicht bieten,
bietet das Meer,
eine Vielfalt der Farben,
tiefblau, grünlichgelb, grün und türkis,
weißer Sand, Muscheln, Algen - und Steine.

Die Menschen, die Sarden,
von ursprünglicher Schönheit,
sanft und betörend die Jugend,
herb und verzaubernd dann,
im Alter wie Skulpturen,
begonnen und nicht beendet,
nur der Kern freigehauen,
wie Urgestein.

Menschen mit einem Blick wie der Himmel,
klar und ungetrübt,
ohne Wölkchen am Horizont,
ernst und ergründend,
und wenn sie dich erkennen
als ihresgleichen im Wesen:
ein Lächeln im Blick,
ein strahlendes Lachen,
befreiend, erlösend,
und du bist angenommen
auf Lebenszeit.

Sardinien,
Sonne, Steine, Staub,
wie einen kostbaren Smaragd
behalte ich dich im Herzen,
Land meiner ersten und einzigen Liebe.

noé/1988

Gedichtform: 
Noch mehr von der Persönlichkeit → Heide Nöchel (noé)