Plädoyer für blinde Sterne ...

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Einmal, mein Herz schlug im dreizehnten Sommer,
hielt ich ein Plädoyer für blinde Sterne.

Der letzte Krieg war fast vergessen, die Grenzen gezogen;
aber in mir hallte nach jene Zeit, in der das Kind
trösten musste die Mutter und ein Scherz das Signal der
Verzweifelten war.

Die Worte strömten mir durch Herz und Hirn, mein
Mund erst trug sie zu Grabe, denn ich blieb stumm: Ein
Spatz, der nicht „singen“ darf; so will es manch Leid ...

Gerichtssaal des Zufalls: O Dachboden, Schreckgespenst
meiner Kindheit, darauf ächzte und und knarrte die alte
Kommode, aus deren oberster Schublade ich zuvor jene
Akte gezogen hatte, deren Inhalt mir bis dato unbekannt war.

Beweis 1a): Vorlage oben erwähnter Akte H. ./. W.

Die gleißende Sonne, meine Kronzeugin, drängte sich
durch die schmalen Gauben, hob den Kohlenstaub auf ihren
Strahl, ließ ihn tanzen und tat so, als sei sie tauber noch als
der alte Herr Kahlke in der windschiefen Reetdachhütte
gegenüber von Hatschis Kneipe.

Beweis 1 b): Zeugnis der Frau Sonne, zu laden über jene
flugbewährte Taube, die sich aus eigenem Antrieb in Gefahr
begeben und darin umkommen wird.

Ich redete stundenlang, ohne auch nur einen einzigen Laut von
mir zu geben; die runden braunen Knöpfe an der Kommode nickten
hin und wieder verständnisvoll: zwei Schöffen, ein Berufsrichter,
der Herr Staatsanwalt ...

Am End ward gesprochen das rettende Urteil … wie es die Akte
mir prophezeit hat ...

Ich sah meine blinden Sterne ein zweites Mal ihre paar Möbel hinauf
in die beiden winzigen Zimmer im Obergeschoss des Einfamilienhauses
der „Hiesigen“ wuchten, darin vier Personen und ein „hiesiges“ Baby „hausten“;
das Baby war ich, Protestlerin, die sich, vorzugsweise nachts, die Seele aus
dem Leib greinte, um die beengten Verhältnisse anzuprangern.

***

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Flurtür; ich warf die
Akte zurück in die Schublade und setzte mich, demonstrativ
wartend, auf den einzigen Stuhl im lichttrüben Korridor.

„Du bist schon zu Hause?“, staunte meine Mutter. „Ist der
Sportunterricht ausgefallen?“
„Nein“, sagte ich und warf ihr einen liebevollen Blick zu.
„Ich musste hier mal eben ein paar Flüchtlinge mit hiesigem Baby
verteidigen, denen man die Möbel auf die Straße geschmissen hatte.“

Meine Eltern (Flüchtlinge aus Pommern) hatten sich nach dieser Gemeinheit an Anwälte in Glückstadt gewandt: Rechtsanwälte Dr. von Heydebreck (damaliger Kultusminister von Schleswig Holstein) und Dr. von Collas.
In dieser Kanzlei habe ich Jahre später, durch reinen Zufall, eine Menge gelernt über Recht und Unrecht; denn wir Angestellten und Auszubildenden wurden in keinster Weise eingeengt oder gegängelt, was das Lernen betraf, und viele Rechtsfälle wurden mit uns bis ins kleinste Detail diskutiert, wofür die RechtsanwältInnen Ernst und Anngret Magens und Rechtsanwalt Boie, der später als Staatsanwalt nach Bonn ging, Sorge trugen; denn Dr. von Heydebreck hielt sich fast immer in Kiel (Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein) auf, und Dr. von Collas trat bald in eine Kanzlei an seinem Wohnort ein. Im zweiten Lehrjahr durfte ich bereits selbständig Briefe an Mandanten entwerfen, die ausnahmslos dem Geschmack der Rechtsanwältin Anngret Magens entsprachen.
Ich hätte nie gedacht, in der Lage zu sein, aus dem Stegreif eine derart gewandte Verteidigungsrede halten zu können; denn ich war damals ja noch viel zu jung und hatte nicht die geringste Ahnung vom Rechtswesen. Schade, dass die Worte niemals über meine Lippen kamen und nirgendwo schriftlich festgehalten sind. Alles geschah nur in meinen Gedanken nach der Lektüre jener Akte, die ich damals in der alten Kommode entdeckt hatte. Die Worte kamen wie von selbst; sie fielen mir zu wie von einem Zaubermund in mein Ohr geflüstert, ein Mysterium, das ich mir noch immer nicht erklären kann, denn würde ich heute, als Erwachsene, eine Verteidigungsrede halten wollen oder müssen, müsste ich sie mir vorher erarbeiten.

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