Erst der Tod macht viele lebendig ...

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

November – dein früher Dämmer
ist kein Gewinn für Kranke,
deren Tage gezählt sind.

Stumm und ohne Gebet will
ich sitzen am Bett meines Mündels
den Kopf voller Liebe ...
Die leg ich ihr in die
traurigen kleinen Hände.

Mein Sommerherz, denk ich,
schlägt noch im gleichen Takt
wie im letzten August – es hat Sehnsucht
nach einer Sonne in Menschengestalt
die den Tod besiegt.

Der raue Novemberwind
will mir die Sehnsucht austreiben.
„Bleib bei mir“, flüstert mein Mund
überm Bett meines Mündels.
„Sobald du stirbst, grünt mir
nur mehr der Mond.“

Erst der Tod macht viele Menschen
lebendig – mein Mündel hat gefroren,
gehungert, gebangt, gezittert, geweint …
Hat mein Mündel - gelebt?

Stark und leise will ich sein,
wenn mein Mündel stirbt
und Sterne legen auf ihre
erloschenen Augen.

Ein gesunkenes Schiff bin ich nun.
Aus meinen Augen strömen Tränen
ins Meer.

Irgendwo dort auf dem Grund
liegt mein Mündel begraben:
eine Niemandsrose, Algen
im Aug einen toten Fisch
im offenen Mund ...

Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: