Sonne: Unser Tagesgestirn strahlt Freude aus, Freude und Wärme …
Jeden Tag ein bisschen mehr Wärme und ein bisschen weniger Freude.
Weil sie nicht weiß, was bald geschehen wird …?
Weil sie nicht weiß, dass ich die letzte Rakete zum Mars versäumt hab`...?
O bittere, unbarmherzige Orange ...
Ach, ich war eine Stunde zu spät auf dem Flugplatz;
der Reißverschluss an Lydias Handtasche klemmte und
musste gerichtet werden. Das ist lange, lange her ...
Lydia, meine Frau, ist mit dem Taxi vorausgefahren;
ich wollte noch unsere Katzen und den Hund mit Futter
versorgen; wir würden niemals mehr zurückkehren ...
O bittere, scheinheilige Orange …
Sie tut noch immer so, als ahne sie nichts von ihrer
verheerenden Bedeutung und dass wir Menschen in höchster Not waren.
Ich sitze meistens am Wasser, im Schatten einer dieser
Riesenbäume, unter der Traufe sich neigender Blätter.
Die Hitze wird von Tag zu Tag krasser.
Nichts, rein gar nichts wird mehr übrigbleiben nach dem Kollaps –
auch das Plutonium in unseren Atombomben nicht,
das erst nach 250.000 Jahren abgebaut worden wäre,
sofern wir keine neuen gebaut hätten.
O bittere, unbarmherzige Orange …
Selbst polychlorierte Biphenyle, krebserregende Chlorverbindungen,
die sich noch nach Millionen Jahren auf unserer Erde nachweisen ließen,
wären von heute auf morgen spurlos verschwunden.
Jetzt sind alle fort – alle: die, die ich kannte und liebte und auch jene,
denen ich stets misstraut habe.
Meine Sorge um unsere Tiere (ein Hund, zwei Katzen) und Lydias
Reißverschluss sind mir zum Verhängnis geworden.
Unsere Haustiere werden bald sterben – alle: entweder verhungern
oder von größeren Tieren gefressen.
Afrika gehört längst den Elefanten, Nashörnern, Giraffen -
und der Natur.
Sie wird sich komplett erholen – von allem, was wir ihr
angetan, wodurch wir sie gebändigt und uns untertan gemacht haben.
Wie still es jetzt überall ist – ohne den täglichen Verkehrslärm –
Autos, Flugzeuge, Züge - alles liegt brach; die Stimmen der Menschen
sind nach dem Start der letzten Rakete gänzlich verstummt.
Es gibt kein Lachen und kein Weinen mehr auf der Erde.
Ich habe mir große Gefühle abgewöhnt. Sie helfen nicht die Bohne.
Nur wenige Vögel singen noch - lauter als damals ... als alles noch in
scheinbar bester Ordnung war; sie trällern sich Mut an.
Heute Nacht wird es wieder sehr finster sein, aber ich fürchte mich
längst nicht mehr. - Alle Lichter sind erloschen; es gibt schon seit
Monaten keinen Strom mehr. Selten lassen sich Mond und Sterne blicken.
O bittere, scheinheilige Orange …
Weiter südlich ging vorgestern eine Stadt in Flammen auf.
Niemand löscht mehr die Feuer. Die Flammen werden sich durchfressen
bis ans Ende der Welt.
Gestern Morgen bin ich in einem hölzernen Kahn durch den überfluteten
Elbtunnel nach Hamburg gefahren. Eine waghalsige Reise.
Auch in der Hansestadt brennt es an allen Ecken und Enden;
aber das Rathaus steht noch und einige Häuser an der Alster sind unversehrt.
Ich bin in die Bücherhalle gerannt und habe die Werke von Frederico
García Lorca und Jehuda Amichai gerettet.
Für wen …? - Ich weiß es nicht. In weniger als 300 Jahren wird Hamburg versinken
wie einst Rungholt - wegen der Flußmündung.
Aber so, wie es jetzt aussieht, wird die Sonne auch das verhindern und
die große Stadt in einem Atemzug auslöschen ...
O bittere, unbarmherzige Orange …
Ich bin im vierzigsten Jahr und werde bald sterben. Die Hitze ist
unerträglich, aber die Natur geht auf Erholungsreise. Das Gras spaziert
bereits über die Autobahnen und Straßen. Sträucher und Büsche verwandeln sich
in Bäume, Bäume mutieren zu hölzernen Dinos.
Kürzlich entdeckte ich in der Nähe eines Dorfes ein Wolfsrudel, das einen Hühnerstall leergeräumt hat.
Myriaden von Insekten und Würmern fressen sich durch Holzhäuser und Schuppen.
Ich höre sie schmatzen; sie schmatzen sich gar durch meine Träume - eklig.
Bevor die Golden Gate Bridge verrostet und einstürzt, wird die Sonne
kurzen Prozess mit ihr machen.
O bittere, scheinheilige Orange …
Es fährt kein Zug mehr nach Paris; die Jahre des Eiffelturms sind gezählt.
Auf den Straßen stapeln sich Leichen: Hunde, Katzen, Ratten - und
jede Menge Ungeziefer ...
Nichts ist von Dauer, absolut nichts.
Wir sind weit gekommen - hier, auf unserer einst so schönen Erde:
Krebs war heilbar, wurde schon im Vorstadium mit weniger als fünf
Kapseln eingedämmt, unsere Alten zählten dreihundert Jahre und mehr,
blickten auf ein langes Leben zurück und starben bei bester
Gesundheit – überwiegend durch Unfälle im Haushalt oder auf unseren
Straßen.
O bittere, unbarmherzige Orange …
Ich sitz' hier im Schatten einer riesigen Eiche und denke an Lydia und
an unsere beiden Kinder: Larissa und Lasse. Sie leben jetzt auf dem Mars.
Dort kann ihnen nichts mehr geschehen. Das macht mich glücklich. -
Ich greife zu einem Ast, der im verdorrten Gras liegt und male ein Datum,
ein Wort und einen Satz in den schwarzen Staub:
11. Juni 2301 – Apokalypse.
Es ist zwei Minuten vor zwölf (almost high noon), mindestens.
O bittere, scheinheilige Orange!