Der Handel mit den Träumen

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Sonntag –
Der Klang der Kirchenglocken ...
Ich erwache heute später als sonst
aus jenem Traum, den ich erwarb
vor gut einem halben Jahr.

Ich hatte drei zur Auswahl:
Der Händler auf der Kirmes
in der orientalischen Bude
bot sie mir an zur gefälligen Probe.

Ich durfte jeden Traum ein einziges Mal
träumen … und kaufte den letzten,
darin ich glücklich war.

Ich träume ihn seither jede Nacht;
er kostete neunundneunzig Euro
achtundneunzig, ein Spottpreis.

Zuallererst sehe ich jenen armen,
unbelehrbaren Irren, der draußen in
seinem Auto sitzt und hupt, während bei
mir zur gleichen Zeit das Telefon
läutet (es ist leider nicht das erste Mal
und Belästigung pur), endlich ...
für immer zur Hölle fahren.

Das bringt mich gewaltig zum Lachen,
bevor ich mir die Ohren zustopfe
und genüsslich weiterträume …

Jetzt kommt Er ins Bild … für mich
der schönste Mann auf Erden;
auf einen wie ihn hab ich
mein Leben lang gewartet.

Wir lieben uns wie Rose und Dorn,
wie die Geigen ihre sanften Bogen,
wie Zeiger die Uhren: Sobald wir
zusammen sind, bleiben sie stehen,
und wir vergessen die Welt.

Wir schlafen wie Wälder unterm
Schnee des Winters, wie Worte
in ungelesenen Büchern, wie Täler
im Schatten ihrer Berge.

"Ich bin mit diesem Traum sehr zufrieden",
teilte ich dem Händler kürzlich mit;
aber er verstand kein einziges Wort.

„Sie können ihn jederzeit umtauschen,
meine Liebe. Immer zu Ihren Diensten“,
schmeichelte er. – Aber ich denke
nicht im Traum daran.

In memoriam Ingeborg Bachmann und Paul Celan

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