Yvonne trat einen Schritt zurück und ließ uns in ihr Etablissement. In der Mitte eines zirka siebzig Quadratmeter großen Raumes erstreckte sich eine Theke, das einzige Objekt, das gut ausgeleuchtet war. Die Tische, die ringumher gruppiert und kaum besetzt waren, lagen im rötlichen Schummerlicht.
Yvonne bat uns, auf den Barhockern Platz zu nehmen, und Georg und ich setzten uns an den Tresen.
„Schenk' den beiden Herrschaften doch schon mal 'nen coolen Drink ein, Martina“, sagte Yvonne zu der Bardame – ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen, deren äußeres Erscheinungsbild mit diesem Job schwer in Einklang zu bringen war. Sie machte eher den Eindruck, als studiere sie tagsüber – möglicherweise Kunst und Design, Sallys Traum, als sie mir noch halbwegs 'normal' vorkam.
„Ich habe nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen, Georg, dann bin ich wieder zurück, und wir können uns gern über die Tochter deiner Freundin unterhalten.“
Mir fiel auf, dass Georg sich entspannte.
„Es wird alles gut, Cordula. Wirst sehen, Yvonne macht das schon. Sie hat viele Beziehungen, kennt fast jeden Zuhälter – etwas anderes sind diese Loverboys doch im Endeffekt auch nicht“, raunte er mir zu.
Martina stellte zwei rosarote Drinks mit Limonenschalen und Strohhalmen vor uns auf die Theke und lächelte dabei geheimnisvoll wie Mona Lisa. Mich beschlich auf sonderbare Weise ein ungutes Gefühl; aber mein heftiger Durst hinderte mich daran, das Getränk zu verweigern oder gar in den Blumentopf mit der schönen Wasserpalme zu kippen, der unweit von mir auf der Theke stand. Seit dem Frühstück heute Morgen, das ich mit Pavel und meiner Mutter eingenommen hatte, war ich nüchtern. Ich stieß mit Georg an, und wir ließen – fast synchron - das nach Kirschwasser duftende, farbenfrohe Getränk durch unsere Kehlen laufen.
Die Müdigkeit, die sich schon nach wenigen Minuten bei mir einstellte, schob ich auf den langen Tag: Ich war seit mehr als fünfzehn Stunden auf den Beinen. Georg wirkte mit einem Mal sehr erschöpft.
„Wann kommt die endlich wieder zurück?", flüsterte er mir nach einer Weile zu. "Ich habe plötzlich so ein ungutes Gefühl.“
Was danach geschah, kann ich nicht eindeutig sagen. Ich bekam gerade noch mit, dass mir mit einem Mal übel und schwindelig wurde. Ich glitt wie ein nasser Sack vom Barhocker; aber irgendjemand fing mich auf, bevor ich, einem angeschlagenen Boxer gleich, zu Boden ging.
Als ich wieder zu mir kam, wusste ich anfangs nicht, was geschehen war - bis mir meine Tochter Sally einfiel, eine Erinnerung, die nach und nach mein Gedächtnis in Trab brachte; einzig mit dem Mann, der neben mir auf dem Fußboden eines fremden, leeren Zimmers lag, konnte ich nichts anfangen.
Draußen war es taghell. Wahrscheinlich hatte ich den Rest der letzten Nacht in dieser trostlosen Kemenate verbracht.
„Da waren K.-o.-Tropfen drin, in diesem Drink - von Martina“, murmelte der komische Typ in Frauenkleidern neben mir. „Ich hätte das wissen sollen. Mit Yvonne kann man keinen Deal machen, die ist falsch.“
„Wer sind Sie?“, fragte ich.
„Gute Frage“, stellte mein Zimmergenosse fest. „Das gleiche habe ich mich vor einer Weile auch gefragt, bis ich herausgekriegt habe, dass ich einer Frau helfen wollte, ihre Tochter zu finden, die in die Hände eines Loverboys geraten ist. Diese Frau hieß Cordula mit Vornamen. - Du heißt Cordula, meine Liebe, falls dir das nicht schon von selber eingefallen ist.“
„Danke vielmals. Und wie heißt du?“
„Ich bin Georg“, stellte sich der Typ neben mir vor.
„Ach herrje, mein schönes teures Kleid ist im Eimer. Guck dir bloß mal an, wie das jetzt aussieht, Cordula. Hast du eine Sicherheitsnadel bei dir? So kann ich mich unmöglich auf der Straße blicken lassen. - Falls wir hier überhaupt jemals wieder rauskommen.“
Georgs Kleid war tatsächlich hinüber. Nicht allein der Schlitz, der sich auf der rechten Seite des schwarzen Minis befunden hatte, war bis zur Achselhöhle aufgetrennt, auch an der linken Seite war die Naht fast vollständig aufgerissen worden. Den edlen Designer-Fummel konnte man nur mehr als Tunika bezeichnen.
Ich stützte mich an der Wand ab, um auf die Beine zu kommen. Mein Kopf begann zu schmerzen und mir wurde schwindelig; aber zu guter Letzt stand ich einigermaßen sicher auf meinen zwei Beinen – und entdeckte ein kleines Fenster, das knapp einen halben Meter unter der Zimmerdecke eingelassen war.
„Hast du eine Ahnung, wo wir uns hier befinden, Georg?“, fragte ich.
„Nein, aber ich habe eine Idee. Wenn ich dich Huckpack nehme, könntest du eventuell hinausschauen und mir die Gegend schildern. Gut möglich, dass ich dann weiß, wohin man uns verschleppt hat. Ich kenne München wie das Innenleben meiner Handtasche. Möglicherweise befinden wir uns sogar im Erdgeschoss dieses Gebäudes; in diesem Fall könnten wir die Scheibe einschlagen und du könntest dich runterlassen und die Polizei rufen, damit sie mich befreit.
"Huuuch! Ich glaub es ja wohl nicht!“, schrie Georg plötzlich und fasste sich an den Kopf.
„Die Schweinebande hat meine Perücke geklaut! Und ich war schon so lange nicht mehr beim Friseur. So kann ich mich doch unmöglich vor den Leuten blicken lassen.“
„Setz dich mal wieder hin“, sagte ich zu Georg, der aufgestanden war und sich vergeblich bemüht hatte, aus dem Fenster zu schauen. „Ich habe eine Idee.“
Georg ließ sich brav auf den Boden sinken, und ich zog einen Kamm aus meiner Jeansjacke hervor und brachte sein Haar in Form, das fast so schwarz wie seine Perücke war, an die ich mich mit einem Mal erinnern konnte wie an den aufreizenden Schlitz in seinem schwarzen Minikleid, als es noch heil gewesen war und adrett ausgesehen hatte.
„Wozu brauchst du eigentlich eine Perücke, Georg?“, fragte ich. „Viele Frauen wären froh, wenn sie so schöne Haare hätten wie du.“
„Hach“, rief Georg, „wenn du wüsstest, wie ich morgens ausschaue, Cordula. Ohne meine Perücke bin ich nur ein halber Mensch. - Jetzt wollen wir aber mal ausprobieren, ob du draußen die Gegend peilen kannst, wenn ich dich Huckepack nehme, anderenfalls müsstest du dich auf meine Schultern stellen. Hast du schon mal im Zirkus gearbeitet?“
„Nein“, sagte ich. „Aber ich werde es schaffen; darauf kannst du dich verlassen. Ich will hier so schnell wie möglich raus, und wenn ich aus dem dritten Stock springen muss.“
„Na, na! Wir wollen nichts überstürzen“; sagte Georg, trat einen Schritt vor die Wand, in der das Fenster eingelassen war, und formte mit seinen Händen eine Räuberleiter, damit ich mich auf seinen Schultern niederlassen konnte.
Die Prozedur war längst nicht so schwierig, wie ich sie mir vorgestellt hatte: In weniger als einer halben Minute baumelten meine Beine über Georgs Brust.
Ich reckte meinen Oberkörper in die Höhe und schaute aus dem Fenster. Was ich da draußen erblickte, raubte mir für Sekunden den Atem.
„Sag schon, Cordula! Kannst du was sehen? - Wo sind wir?“, drängelte Georg wie der Hahn aus den Bremer Stadtmusikanten.
Ich holte tief Luft und mimte den Esel: "I-Ah,was ich sehe? Ein wunderschönes, großes weißes Haus mit Terrasse und riesigem Garten, darin wahrscheinlich Räuber sitzen und sich 's wohlergehen lassen."
"Das wäre was für uns", sprach Georg, der Hahn.
"Ja, ja, ach, wären wir nur auch da drin und nicht vermutlich in einem Verließ der dazugehörigen, schnöden Gartenlaube!" sagte ich, der Esel.
„Wir befinden uns höchstwahrscheinlich in Gewahrsam einer organisierten Loverboy-Organisation, meine Liebe, deren Kopf ein angesehener Münchener Bürger sein könnte“, stieß Georg plötzlich hervor und ließ mich von seinen Schultern steigen.
„Wie weit ist das Haus von unserem Kerker entfernt? Könnte es sein, dass wir vom Haus aus beobachtet werden?“
„Schon möglich“, sagte ich. „Aber wir müssen den Ausbruch riskieren. Wer nicht wagt, gewinnt auch nicht.“
Fortsetzung am 29. Dezember 2016