der Engel in mir

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von Marie Mehrfeld

Begegnung der unvermuteten Art an unserer alten Kreuzung nach sehr langer Zeit, Mai ist wieder, ein frischer Wind kühlt mir die Ohren und der Himmel so gewaltig hoch wie damals, weißt Du noch, scheues Streicheln, Gänsehaut, unsere leuchtenden Augen, die erste Liebe, heimliches Händefassen, so jung war es

und neu und wild, als wir uns heimlich trafen im Schatten des blühenden Syringa Gebüschs, der hell lilafarbene Duft so berauschend - und jetzt scheinst Du still und matt, mein hoffender Blick umfasst Deine gebückte Gestalt, fliegt in müde Augen, nicht mehr nach außen gerichtet, der Mund verzagt gekrümmt, meine Seele

hat das Erinnern verlernt, sagst Du, auch das an mich, an uns, frage ich Dich, und du sagst, ich weiß es nicht, ertaubt bin ich an zu vielen gehörten, gesagten kalten Worten und Taten, ihre Schatten fraßen jenes Licht auf, das uns strahlen ließ, sagst Du zu mir traurig bei der Begegnung der unvermuteten Art an der alten Kreuzung, erneut vom Fliedergebüsch umweht,

jetzt wieder in Duft und Blüte, die vertraute Gaslaterne mit ihrem gelblich flackerndem Licht haben sie gegen ein kaltes Stahlmonster ausgetauscht, und die Kids auf dem Bordstein hockend sind in ihren bunten Telefonen versunken und lassen keine Murmeln mehr klackern, das ist doch gut so, sage ich in Dein erloschenes Gesicht,

die Zeiten wandeln sich und wir uns mit ihnen, ich nicht, sagst Du, kann das Vergangene nicht verzeihen. Und ich ziehe weiter, lächelnd weinend über Deine Finsternis, die ich nicht teile, denn da ist so viel Licht überall, siehst Du es nicht, und der Engel in mir breitet seine Flügel aus und behütet mich vor dem Versinken im Bedauern

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