Sommerliche Rede an den großen Strom

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Strom, alter Mann, lass das Schiff meines Lebens
Nicht kentern in der Tiefe, daraus meine Seele zu
Dir spricht.

Rot, ja rot ragt seit jeher ein Fels aus deiner Brandung:
Hier auf mich zu und vorbei in den sicheren Hafen!,
Ruft er mir zu.

O Schicksal, lass dich bei deinen Plänen für 's
Menschengeschlecht von Liebe und Güte leiten …
O Schmerz, wohin ist meine letzte Liebe auf Reisen
Gegangen, die Reste meines Glaubens im Gepäck.

Dort, wo ich lebte in alter Zeit:
Ein Ort, fremder nun als jenes gängige Glück,
Dem ich stets aus dem Weg gehen wollte.

So atme ich wieder die Schwärze des Schotters, daneben jener erblühte,
Der über den Deich blicken konnte: mein alter Kastanienbaum …
Daneben auch ich, die auf herabgefallenen Früchten und wuchernden
Wurzeln kniete, Mutter Erde ihr Leid klagend …
Das Leid eines Kindes, das niemandem widersprechen durfte.

Lieder, ihr alten, singt euch zu Ende. Wir, die euch angestimmt
Haben, lauschen ... als ertönten jene „neun Chöre der Engel“*.

Mädchenlachen: Hell klingt 's über den Deich. Dort sprachen wir einst
Über Liebe und Tod und sahen zu, wie der Frühling unter heftigen Wehen
Die Bläue des Himmels gebar.

Nur einmal noch den Kopf heben dürfen im Morgengrau beim Ruf der
Alten Rotbauchunke, beheimatet in deiner Au, seit mein Herz schlägt,
Ehe Gott die Nacht unters Siegel presst und einen neuen Sommertag
Hisst … einen neuen Tag, der für mich erst dann begann, nachdem
Ich dein Wasser hinter der grünen Schilfwand aufblitzen sah.

*Neun Chöre der Engel ... sind eine Einteilung der Engel in der christlichen Mythologie in drei Hierarchien mit jeweils drei Chören.

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