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4. November 1810
Heute Nachmittag kam ein reicher Geschäftsmann in den Laden meines Vaters und kaufte sich dort eine wirklich mehr als scheußliche Standuhr, welche ihm hingegen jedoch sehr gefiel und sie daher als Geburtstags- und zugleich auch als Hochzeitsgeschenk für seine Frau wählte. Weil die Standuhr jedoch eine Überraschung für sie werden soll, er diese jedoch weder zuhause, noch bei seinen Freunden sicher verstecken kann, konnte er sie jedoch leider nicht gleich mitnehmen und so bot mein Vater ihm an, sie ihm zuzustellen. Natürlich war der Mann nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Termine begeistert von dieser Idee, war froh, dass er sich nicht selbst um den Transport, sich nicht erst darum kümmern musste, dass ihm diesen jemand abnahm, und aus Dankbarkeit für seine Freundlichkeit und seine Dienste, bezahlte er meinem Vater sogar fünf Dollar extra für die Standuhr. Fünf Dollar sind fünf Dollar und selbst für Geschäftsleute wie meinem Vater eine Menge Geld und gut zu gebrauchen, glücklich über die Abmachung bin ich aber trotzdem nicht. Ich mag es nämlich überhaupt nicht, wenn Vater verreist, bin nämlich nicht gerne allein zuhause und vorübergehend bei meiner besten Freundin Clarissa wohnen will ich ebenfalls nicht, fühl mich dann doch noch in meinen eigenen vier Wänden am Wohlsten, und Vater begleiten, will ich erst recht nicht. Mein Vater liebt Reisen, liebt es neue Gegenden zu erkunden, fremde Menschen kennenzulernen und alte Freunde zu treffen, liebt es, neue Abenteuer zu erleben, aber ich nicht. Ich habe am Liebsten meine Ruhe, bin am Liebsten in meinem Zimmer oder sonst mit Clarissa zusammen, doch dieses Mal mache ich eine Ausnahme und komme mit meinem Vater mit nach Manhattan, wo wir seit zwanzig Jahren nicht mehr gewesen sind. Es ist unglaublich, aber irgendwie freue ich mich sogar schon auf die Stadt, kann es kaum noch erwarten, endlich dort zu sein, und schuld daran sind das Museum dort, in das ich unbedingt will, und mein Vater, der mich erst überhaupt dazu überredet hat, mir diese Reise anzutun. Er will mir nämlich in Manhattan unbedingt etwas zeigen, will, dass ich etwas aus meiner Vergangenheit erfahre, von dem ich noch nichts wüsste, und ich bin schon mehr als gespannt darauf, was es ist, denn dies will mir mein Vater leider nicht verraten. Er sagte mir nur so viel, dass es etwas mit einem längst verstorbenen Freund von ihm zu tun habe.
11. November 1810
Nahezu eine ganze Woche waren Vater und ich mit unserer Kutsche unterwegs gewesen, hatten nicht wirklich viel erlebt, das es noch dazu wert gewesen wäre, es aufzuschreiben, bis wir heute Abend unser Ziel endlich erreichten, endlich in Manhattan ankamen, und ich erfuhr, was mir mein Vater hier unbedingt zeigen hatte wollen. Es war eine meterhohe Statue eines leider längst verstorbenen Mannes, eines Reverend, um genau zu sein, die auf dem Hauptplatz der Stadt steht und an ihn erinnert. Vater erzählte mir, dass Reverend Matthew Johnson, dies war sein Name, ein ganz besonderer Reverend gewesen war, sich für das Wohlergehen seiner Mitmenschen eingesetzt hatte wie kein Zweiter und auch mir ein Mal geholfen hatte, zur Stelle gewesen war, als ich noch klein und in Not geraten war, mir geholfen hatte, als ich ihn gebraucht hatte. Zwar habe ich dieses Ereignis nur noch wage in Erinnerung, weiß auch nicht mehr, wie der Reverend mich gerettet hat, muss zur meiner Schande gestehen, dass er mir nicht einmal bekannt erschien, als ich seine Statue sah, aber mein Vater verriet mir, was damals geschehen war, und ich lauschte gespannt seinen Worten. Es war im Jahre 1790, vor zwanzig Jahren also, als das Schicksal seinen Lauf nahm und viele Menschen in den gesamten Vereinigten Staaten ins Verderben stürzte. Lange Zeit nicht enden wollende Dürreperioden vernichteten einen Großteil der Ernten der Farmer und was von der Hitze übrig geblieben war, wurde nahezu gänzlich von dem darauf folgenden Unwetter zerstört. Geldnot und Hunger brach auf die Farmer herein, da sie weder ihre Ernten verkaufen konnten, viele auch keine Arbeit fanden, um diesen finanziellen Verlust wieder wett zu machen, noch ausreichend Getreide zur Verfügung war, um durch den Winter zu kommen. Weiter erschwert wurde ihre ohnehin schon alles andere als einfache Lage durch reichlich Schnee und ungewöhnlich niedrige Temperaturen, durch dermaßen strenge Wintermonate wie es sie seit langem nicht mehr gegeben hatte. Zahlreiche Menschen fielen der Kälte, fielen der Hungersnot zum Opfer und es wären noch weit mehr geworden, hätten Reverend Johnson und seine Kameraden sich nicht den betroffenen Leuten angenommen, sich um sie gekümmert. Gemeinsam sammelten sie auf Planwägen die Menschen zusammen und brachten sie hierher nach Manhattan, brachten sie in Miethäusern unter, in denen sie wohnen, so lange bleiben konnten, bis der Winter wieder vorüber war, sie Nahrung erhielten und wenn nötig auch von einem Doktor versorgt wurden, den Reverend Johnson von Spendengeldern bezahlte. Viele Leute, die in Zeitungsberichten von seiner bemerkenswerten Hilfsbereitschaft erfuhren, folgten besonders nach seinem Tod seinem Beispiel und halfen, wo sie nur konnten, und das nicht nur in Manhattan, sondern überall in den Vereinigten Staaten. Zu diesen Leuten zählten unter anderem auch meine Eltern, auch sie waren um das Wohl der anderen bemüht und griffen dem Reverend unter die Arme, indem sie ihm Sachen aus unserem Laden spendeten, ihm lebensnotwendige Dinge nach Manhattan brachten. Ich war damals gerade erst fünf Jahre alt, als meine Eltern und ich gerade auf unserer Kutsche auf dem Weg in die Heimatstadt des Reverend waren und in einem Wald übernachteten. Meine Eltern schliefen tief und fest, als die Rufe eines Rehbocks mich weckten und ich fasziniert von der Schönheit des Tieres dem Rehbock folgte. Ich kann mich noch wage an ein bedrohlich klingendes Geräusch erinnern, das immer lauter wurde, sich mich immer weiter näherte, und kurz darauf wurde ich auch schon zu Boden gerissen, Opfer einer Schneelawine, wie mein Vater mir heute verriet. Ich hatte gigantisches Glück, dass ich nicht vollständig unter ihr begraben wurde, an der Oberfläche blieb und der Schnee mein Gesicht nicht bedeckte, ich somit wenigstens noch atmen konnte. Ich war starr vor Angst, konnte mich nicht bewegen, konnte nicht weinen, fühlte aber