Bullshit …?

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Ich sagte ihm, ich wolle zu mir zurückkehren
und stieg in den Zug nach Calais.

Ich freute mich wahnsinnig auf mich …
Jahrzehntelang war ich „wir“ gewesen –
in jeder Beziehung.

Ich hatte mich völlig vergessen. Man nahm es als
selbstverständlich; aber ich machte mich immer wieder
auf die Suche nach mir selbst und nach der verlorenen Zeit …

In jeder Musik, in jedem Buch, das ich las, in jedem
Film, den ich sah, suchte ich mich. Nachts träumte ich
von mir – wie von einer Unbekannten.

Ich fuhr nach Calais und suchte mich zwischen den Felsen
am Meer. Schöne Muscheln und Steine fand ich dort in den
Klippen.

Ein Fremder kam mir entgegen: aufgeschossen, schwarz-
haarig, die Hosenbeine seiner Jeans bis zu den
Waden hochgekrempelt.

Ich forschte in seinem Gesicht, hoffte, eine Spur von mir
zu entdecken – vergebens. Nur sein Mund lächelte; seine
Augen blieben kalt wie ein Fisch, wie der Glanz des Mondes
über dem Meer, eine unleserliche Zeile flüssigen Quecksilbers.

Ich konfrontierte mich mit meiner Vergangenheit – ergebnislos.
Sie war mir fremder noch als meine Gegenwart.
Wer war dieses Mädchen, das statt meiner gelebt hat,
weil ihr sie mundtot gemacht habt? – Wer ...?

Wer … dieses unfertige junge Ding, vom Elternhaus
in eine Kinderehe geschickt? Das sich bewegte wie
eine Traumgestalt – ein Storchenkind auf Ballerinabeinen ...

Nur selten ein Hochgefühl gespürt … damals vielleicht,
als ihr mich so dringend gebraucht habt auf dem Sportplatz in der Kaserne.
Für euren Staffellauf … bin ich gekrochen in fremde Turnklamotten,
völlig unvorbereitet, und hab euch, nach langer Krankheit,
zu jenem Sieg verholfen, an den ihr nicht mehr geglaubt habt.

Und dann diese Jahrhundertwohnung, da lebte ich schon nicht
mehr und atmete das Parfum meiner Schwestern, bevor sie zum
Ball gingen.

Ein Leben lang wehrte ich mich … gegen meine Unzulänglichkeit.
Die Welt ist ein Spiegel, der uns ihre Schönheit zeigen will,
aber wir sehen nur Schatten, einen faden Abglanz,
und richten sie zugrund.

Ich suchte mein Volk an einem Ort, der die Wahrheit erträgt und
auch mich lehren würde, die Wahrheit zu ertragen. Die ständige
Konfrontation mit euren Schwächen haben mich zum Krüppel
und gleichzeitig dermaßen stark gemacht, dass ich andere
besser durchschaue als mich selbst.

Das Schicksal kennt keine Gerechtigkeit. Es ist eine Bestie,
die über uns herfällt, an American Bulldog,
die unsere Angst wittert.

Wir leben in gelassener Hektik den Tod und versuchen zu
lieben ... um sterben zu können – mit irgendeinem Namen
auf den bleichen Lippen.

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