Kürzlich verstarb mein Lieblingsonkel Ludger, mit dem ich die Leidenschaft für Philatelie teilte. Während seiner letzten Lebensjahre standen wir ausschließlich im Briefkontakt, weil ich unseren gemeinsamen Wohnort berufsbedingt verlassen musste; als er jedoch aufgrund eines Schlaganfalls ins Hospital eingeliefert wurde, besuchte ich ihn, sooft es möglich war.
Als Tante Elsie, seine jüngere Schwester, mir nur wenige Monate später mitteilte, dass ihr „lieber Bruder Ludger“ heimgegangen sei, war ich sehr traurig. Selbstverständlich erwies ich ihm die letzte Ehre und fand mich nach der Trauerzeremonie in einem Gasthof wieder, an dessen Tischen nicht nur eifrig gespachtelt, sondern auch leidenschaftlich über das zeitlich begrenzte Erdenleben diskutiert wurde. Onkel Ludger wäre begeistert gewesen.
„Zeit ist relativ, Ronny“, wandte sich Tante Elsie mit resoluter Stimme an ihren jüngsten Bruder. „Im Wartezimmer eines Zahnarztes vergeht sie oftmals viel zu schnell, weil man am liebsten nicht drankommen möchte, und vor dem Wiedersehen mit einem lieben Menschen schleichen die Stunden im Schneckentempo dahin.“
Onkel Ronny, der schon einige Klare intus hatte, geiferte mit schwerer Zunge: „Hätte Ludger, dieses faule Aas gearbeitet wie jeder normale Sterbliche, wäre seine Zeit zum Geld-aus-dem-Fenster-werfen begrenzt gewesen, und wir säßen jetzt nicht auf den Beerdigungskosten. Wäre der Saukerl früher in die Grube gefahren, hätten wir auch was vom Lottogewinn gehabt. Fünfhunderttausend Euro zum Fenster rauszuschmeißen, ist niederträchtig. Seit ich Rentner bin, will der Tag einfach nicht über die Runden kommen, Elsie. Ich kann es mir nämlich nicht leisten, die Zeit mit Shopping totzuschlagen.“
„Du sollst deine Zeit nicht totschlagen, lieber Ronny, sondern genießen“, erklärte Tante Elsie mit mütterlicher Stimme. „Such dir ein Hobby, dann läuft sie dir davon, deine Zeit.“
„Echt wahr“, mischte sich meine jüngere Cousine Ludmilla ins Gespräch. „Unser Klassenlehrer hat neulich erst gesagt, die Zeit vergehe wie im Fluge, wenn man bedenke ...“ -
„... dass schon Neanderetaler Haselnüsse geröstet haben?, wolltest du sagen, mein Kind?“, unterbrach Tante Elsie ihre Tochter und fuhr fort, „... was beweist, dass trotz Millionen von Jahren, die uns von jenen Wilden trennen, noch nicht allzu viel Zeit verstrichen sein kann, anderenfalls wären Haselsträucher längst von der Bildfläche verschwunden.“
Ludmilla pflichtete ihrer Mutter mit glänzenden Augen bei, während ich damit beschäftigt war, den Worten meiner Tante einen tieferen Sinn abzuringen.
„Hasselnüüse“, lallte Onke Ronny und kippte den zwölften Klaren. „Wie solln die die Dinger aufbekomm haben? Gab's damals schon Nuuskacker, hihi?“
„Hallo?, schon mal von von Steinen gehört, Steinzeit?“, fragte Ludmilla mit gerunzelter Stirn. Tante Elsie warf ihr einen warnenden Blick zu.
Onkel Ronny rülpste verächtlich und brabbelte: „Wetten, dass Ludger, diesses Luuder, seine Kohle mit verkommnen Weibsbilder versoffn hat? Werft mal 'n Blilck auf die leeren Weinbuddels im Keller. Damit hätte man jahrzehntelang Vatikanstadt bei Lust und Laune halten könn'.“
„Bei Lust“, kicherte Ludmilla.
Tante Elsie blickte peinlich berührt aus dem Fenster, während Pfarrer Beerbach bemüht war, seine geringschätzige Meinung über uns hinter einem Pokerface zu verbergen.
„Schon möglich, Ronny“, erwiderte Tante Elsie mit scharfer Stimme. Sie nippte an ihrem Cognac und hauchte mit umflorten Blick in meine Richtung: „Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag, als ich mit Ludger endlich raus zum Spielen durfte. Wir liefen zur Dorfwiese, auf der ein paar Schuljungen Völkerball spielten. Dort erblickte ich deinen Onkel Morten zu allerersten Mal, lieber Neffe.“
Ich nickte und lächelte verständnisvoll; wir alle kannten die Story in- und auswendig.
„Fang nicht wieder damit an, Mama. Lass Papi heute ausnahmsweise mal in Frieden ruhn und laber nicht wieder pausenlos von tempi passati.“, fauchte Ludmilla. „Ich werde sonst ganz traurig.“
„Das ist der Sinn einer Beerdigung“, erklärte Tante Elsie spitz.
„Aber Papi ruht seit Jahren unter der Erde, falls dir das entfallen sein sollte“, protestierte Ludmilla.
„Timpi pissati sind olle Kamellen, stimm 's, Milla?“, faselte Onkel Ronny und rülpste ein zweites Mal, was Tante Elsie veranlasste, ihn darauf hinzuweisen, dass er damals noch gar nicht auf der Welt gewesen sei und folglich nicht mitreden könne.
„Wo ist sie nur hin, unsere herrliche Jugendzeit“, klagte Tante Elsie gegen Ende der Trauerfeier mit leidender Stimme.
„Schau in den Spiegel, Mama“, gab Ludmilla gnadenlos zur Antwort, „sie hockt in deinen Gesichtsfalten und in den Fettpolstern auf einen Hüften.“
So ging es noch eine ganze Weile hin und her; der Kuchenberg war dahingeschmolzen, einzig Pfarrer Beerbach kaute noch ausdauernd an einer offenbar zähen Kirsche, die von der Schwarzwälder übrig geblieben war, als Tante Elsie wie aus heiterem Himmel zum Aufbruch mahnte. Sie wolle auf keinen Fall den Tatort verpassen.
„Bis zur Testamentseröffnung, Elias, und mach dir bloß keine Hoffnungen“, gab sie mir zum Abschied mit auf den Weg, nachdem wir Onkel Ronny, der uns wüst beschimpfte, ins Bett verfrachtet hatten.
Der Notar öffnete feierlich Onkel Ludgers Überseekoffer, worin dessen Briefmarkenalben aufbewahrt waren, die, das war mir bekannt, eine Reihe wertvoller Exemplare enthielten. Tante Elsie und Onkel Ronny, fest entschlossen jedwede Erbschaft auszuschlagen, weil sie annahmen, dass Onkel Ludger hoch verschuldet sei, tauschten überraschte Blicke. Die Luft heizte ich auf wie kurz vorm Ziel eines Pferderennens.
Wie durch eine Nebelwand drang die sonore Stimme des Testamentsvollstreckers an mein Ohr: „...Vierhundertausend Euro, mein gesamtes Barvermögen, gehen an die Deutsche Flüchtlingshilfe, und meine überaus wertvolle Briefmarkensammlung erhält mein Neffe Elias, der sie zu würdigen weiß. Möge er einige Prachtstücke zu Geld machen und davon die Beerdigung bezahlen, die dank Ronny gewiss überaus erheiternd war. Jammerschade, dass ich nicht dabei sein durfte.