Lied von der Fremde ...

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Als mir die Stadt noch fremder war als fremd
und ohne Halt und keine Heimat wollt versprechen ...
als das Gewölk der Möwen dort im großen Hafen mir
nicht lachte und keinen Namen wollt verpfeifen …
als auch des Tauwerks Knarren, monoton, mir nicht verriet,
ob Gott in Wind und Wellen wohl zu finden sei ...
führten mich alle Wege zum Hauptbahnhof, von wo
aus die sehnsüchtigen Züge über Grenzen flüchten –
ohne auch nur ein einziges Mal anzuhalten.

Der Tag ward zum Übertag und Grabschatten mir.
Auf welcher Seite des Flusses ich auch immer ins Leben
wollt tauchen … alle Pforten zum Wasser waren verschlossen,
kein Baum, dessen Äste in die Tiefe griffen, daran ich
hinuntergleiten hätt können, und niemand ward mir Freund ...

… Und niemand ward mir Freund und Vorbild, nicht einmal Gott;
denn wofür sollt ich ihn lieben und preisen? – Fürs stete
Auf- und Untergehen der Sonne, das uralte Lied?
Ach, wüsst ich nichts von ihr, so hätt ich kein Leben,
keine Trauer, keine unerwiderte Liebe, kein Sterben …
wäre weit fort von dir und deinen Spuren ...

… Niemand ward mir Vorbild und Freund, nicht einmal Gott! –
Fiele ihm etwas ein, das die Welt aus ihren maroden Angeln
könnt heben … etwas, das den Tag erhellte ohne eine Sonn,
die sich ja doch nur verausgaben will, um zu sterben und uns
mit in den Tod zu reißen ...

Ein jauchzendes Halleluja bei der Geburt
eines jeden Kindchens vielleicht,
Blumen vielleicht, die uns anlächelten,
das Wort ,Heimat': im Geläut aller Kirchenglocken
deutlich hörbar für jedermann,
sichtbarer die Liebe unter den Menschen …?

***
So ward ich denn zum Gestirn der Einsamkeit:
jenen Fremden zugehörig, die sich in aller
Welt zuhause fühlen, viel Unbill in Kauf nehmend.

Findest du mich nicht hier, dann suche mich dort,
wo niemand gern sein will:

in den Tretmühlen des Tages und der Nacht,
in einem vergifteten Land, darin Pfeile statt Worte schwirren,
als Namen auf verwitterten Kreuzen jüdischer Friedhöfe,
in dem Verlangen, lautlos zu weinen,
in der Klage eines Kindes ...

Dort wirst du mich finden;
dort warte ich auf dich.

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