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... wieder lässt sich die Signalpfeife hören, und die Fahrt
beginnt, erst langsam, die ersten Schritte geht es sachte, als ob
eine Kinderhand den kleinen Wagen zöge. Unmerklich wächst die
Schnelligkeit, du aber liest in deinem Buch, studierst deine Karte und weißt gar
nicht, ob die Reise überhaupt begonnen hat, denn der Wagen gleitet wie
ein Schlitten über schneebedecktes ebnes Feld. Du schaust zum Fenster hinaus
und entdeckst, dass du einherjagst wie mit galoppierenden Pferden, noch
schneller geht es, du scheinst zu fliegen, und doch ist hier kein Schütteln,
kein Luftdruck, nichts von dem, was du befürchtet hast.
Hans Christian Anders, Bahnfahrt 1840
Ankunft und Ernüchterung
(... aus Katjas Tagebuch)
Ende Mai brach urplötzlich der Sommer aus. Er dachte nicht im Traum daran, sich nach dem Kalender zu richten, pfiff respektlos auf den 21. Juni, reichte dem Frühling übermütig die Hand und sprach voller Tatendrang: Genug jetzt, mein Bester. Ich bin an der Reihe. Unter deiner Fuchtel wird sie nie zur Höchstform auflaufen, unsere gute, alte Sonne. – Und er brachte alles mit, wonach ich mich sich seit Wochen gesehnt hatte: einen klaren blauen Himmel, Sonne pur, den ganzen Tag lang, und blendende Laune.
Die Ferien rückten näher und näher. Und endlich war es soweit: Ich saß mit meiner Mutter im Schnellzug nach Lübeck. Mit hoher Geschwindigkeit preschte die Bahn durch die Lüneburger Heide. Durch das Fenster, das wegen der stickigen Luft bis zur Mitte hinuntergeschoben war, drang ein heißer Wind und blies trockenen Schienenstaub ins Abteil. Ich starrte gebannt nach draußen, um der Landschaft auf die Spur zu kommen, die pfeilschnell an uns vorüberflog. Voller Freude malte ich mir die vor uns liegenden Stunden aus: Oma holte uns vom Bahnhof ab; wir würden uns in eines der Straßencafés setzen – dort, in der Breiten Straße, wo das Eis köstlich schmeckte; der Bus hätte wie immer Verspätung, aber noch vor dem Abendessen schlösse Opa uns auf Hof Lachau in die Arme. Hof Lachau, das weitläufige, wunderschöne Landgut, auf dem meine Großeltern nach dem Krieg eine zweite Heimat gefunden hatten – und ich meine Sommerfreundin, Christine.
Agnes Maihofer, die in einem urgemütlichen Häuschen auf dem Gutsgelände lebt, nennt ihre Großnichte ‚Stine', nach einer Frauengestalt, die der Dichter Theodor Fontane erfunden hat. Christine hasst diesen Namen und macht keinen Hehl daraus. Trotzdem sagt Tante Agnes weiterhin Stine zu ihr; aber falls sie glaubt, uns mit ihrer Sturheit die kostbarsten Wochen des Jahres verderben zu können, hat sie sich gewaltig geirrt.
„Sieh nur, Katja, die Erika blüht“, rief meine Mutter voller Begeisterung und zeigte aufgeregt nach draußen. Zwischen uralten Kiefern, weißen Birkenstämmen und grünen Wacholderbüschen leuchteten die roten und weißen Blüten des üppigen Heidekrauts zu uns herüber. Auf anderen Gewächsen saßen noch die hellen Frühjahrsspitzen, und immer wieder flogen Pflanzenteppiche aus goldgelbem Laub an uns vorbei. – „Im Winter färbt es sich tiefrot. Das sieht wunderschön aus“, schwärmte Mutti. „Du musst wissen, dass die Heide viermal im Jahr blüht. Am allerschönsten ist sie im Spätherbst.“
Ich nickte gedankenvoll. In wenigen Stunden würde Christine vor mir stehen. Ich dachte über die wichtigsten Dinge des letzten Jahres nach, vor allem aber rief ich mir jene Ereignisse ins Gedächtnis, von denen ich ihr erzählen wollte. Alles hatten wir uns nämlich nicht geschrieben – falls unsere Eltern die Briefe lesen wollten. Außerdem stand Mutti unter dem dringenden Tatverdacht, ständig in meiner Post herumzuschnüffeln. – Was wohl Christine dazu sagen wird, dass ich verliebt bin?, fragte ich mich mit klopfendem Herzen.
Bis jetzt wusste niemand etwas davon, noch nicht einmal Harry, der diese Gefühle ausgelöst hatte. Er war zwei Tage vor den Osterferien vom Kurt-Tucholsky-Gymnasium in meine Klasse versetzt worden. Ich erinnere mich noch genau an jene Stunde, als Herr Moritz ihn uns vorstellte, ja, geradezu präsentierte, als wäre er gleichermaßen willkommen wie jener herrlich sonnige Montagmorgen, der durch die weit geöffneten Fenster in unser Klassenzimmer drang und uns mit hochsommerlicher Macht von sämtlichen Themen abzulenken versuchte.
Seit Mitte Juni befanden wir uns in übermütiger Ferienlaune; die freudige Stimmung lag überall in der Luft, und was unterschwellig in Gang kam, steigerte sich von Stunde zu Stunde geradezu furios. Es gelang uns kaum noch zu verbergen, dass wir nicht mehr bei der Sache waren. Das zu früher „ersten Stunde" ungewöhnlich heiße Sonnenlicht flutete durch den hellen, hauchzarten Gardinenstoff, der die breite Fensterfront eher sichtbar machte als zweckentsprechend verhüllte, und zauberte bizarre Kringel auf den Kreidestaub der ursprünglich dunkelgrünen Wandtafel. Sie hauchten ein Körnchen Leben in die schwer verständliche Formel, die auf der rechten inneren Tafelseite im schönsten Morgenlicht prangte und sich auf die gleichmäßig beschleunigte Bewegung bezog. Ein einziges Wörtchen hätte mich retten können, ein klitzekleines Adjektiv: h i t z e f re i !!!! - Aber solange es im Lehrerzimmer noch auszuhalten war ...
Unsere Physiklehrerin hatte sich in der vorangegangenen Stunde vergeblich bemüht, uns für den öden Stoff zu begeistern. Ihr knochentrockener Vortrag waberte über unsere Köpfe hinweg, und wo auch immer die Sätze stranden mochten: Mein Hirnkästchen verweigerte wegen der verführerisch nahe gerückten Sommerferien jedwede Funktion – wie zugesperrt und vernagelt.
Wir waren in jenen Tagen nichts weiter als ein ignoranter Haufen, der sich nach völlig anderen Bewegungen sehnte: nach Hechtsprüngen ins lauschige Wasser unseres Freibads, nach Radfahren auf dem Deich, nach Twist und Völkerballspielen im Park, nach ... ach, es gab tausend Alternativen zur nüchternen Wissenschaft der Physik. Trotzdem strengte ich enorm meinen Grips an, um die Erklärungen von Frau Mellmann nachzuvollziehn, kapierte jedoch kaum mehr als die Hälfte – längst nicht genug, um die Weg-Zeit-Diagramme für die Aufgaben zu erstellen, die sie an die Tafel geschrieben hatte. –
Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie das oft zitierte Kaninchen vor der Schlange hockte ich schweißgebadet vor dieser vertrackten Formel und versuchte voller Verzweiflung, den schleierhaften Ordinaten und Abszissen auf die Schliche zu kommen. Nahezu unentwegt taxierte ich die blöden Quotienten, die mir nicht den geringsten Hinweis gönnten. Ganz im Gegenteil: Jedes Mal, wenn ich glaubte die Lösung gefunden zu haben, kam Bewegung in die Sippschaft, und sämtliche 'Größen' begannen wie verrückt zu steppen – als probten sie für den neusten Revuefilm am Broadway und hielten mich für eine stinkreiche Produzentin.
Die Namen sind – bis auf zwei – geändert ... im Übrigen haben die meisten der von mir geschilderten Menschen wenig Ähnlichkeit mit sich selber ... außer vielleicht Leni, Oma, Opa, die Gnädigste, Tante Agnes und meine Person: hier die Katja. Ich habe mich bemüht, den Roman anhand der neuen Rechtschreibung aufs Papier zu bringen und bitte um Nachsicht, falls es mir nicht überall gelungen sein sollte – weil die neue Rechtschreibung für meine Begriffe in mancher Hinsicht nicht nachvollziehbar und lachhaft ist. – Und danke, ihr Lieben, dass ihr mir bis hierher gefolgt seid und offenbar abwarten könnt, bis es wirklich spannend wird, Annelie.
Kommentare
Alles läuft hier sehr plastisch ab -
So bleibt der Leser stets auf Trab!
(Dass Putzaktionen gefährlich sind -
Weiß ja [laut Krause] jedes Kind ...)
LG Axel
Dank, lieber Axel, dir, für deinen Kommentar;
ich mal, wo nicht gestreut, auf Glatteis hingefallen war.
Brach mir das Sprunggelenk und konnte lange, lange, nicht mehr laufen
und leider auch keine Treppen steigen -
Mein Ältester, der Chrischan, trug auf Händen mich hinauf gar in den vierten Stock,
dankbar für 's ganze Leben bin ich ihm dafür (war ja selber nur eine halbe Portion):
Das alles war für mich ein großer Schock.
Doch hab' ich Schmerzengeld nicht schlecht dafür bekommen:
den Anspruch hatte keiner mir genommen
und auch nicht nehmen können.
LG Annelie
Ein lebendiger Text, bin gespannt darauf, wie es weiter geht. Selbst, wenn du Namen änderst und Personen erfindest, erfahre ich doch so etwas über die lebendige Annelie und ihr spannendes Leben, und das freut mich.
Lieb Grüße - Marie
Liebe Marie, danke für deinen lieben Kommentar. Deshalb widme ich ja auch dir dieses Buch. Irgendwann werde ich es drucken (lassen), auch deshalb, weil die Illustrationen in Wahrheit viel schöner sind, als auf der kleinen Collage am Ende.
Liebe Grüße,
Annelie
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