Arrest. Erinnerung

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Die Kartoffeln in der Schütte sind verschrumpelt, treiben aus, riechen muffig erdig, und der Koksberg glitzert im Dämmerlicht, das durch das schmale Kellerfenster fällt, so wie Mutters wertvollster Ring mit dem echten Brillant, den sie tags und nachts an der linken Hand trägt. Die Decke hängt tief und ist vom Kohlenstaub schwarz gefärbt.

Beim Mittagessen hat sie wieder mal das böse böse Wort mit sch vorne ausgesprochen. Scheibenkleister. Dem Onkel ist sie mehrfach in’s Wort gefallen. Der Vater höchstpersönlich ergreift sie am Ohr, jetzt reicht’s, bis zum Abendessen bleibst du im Kohlenkeller. So gemein, die Erwachsenen. Autsch, das mit dem Ohr tut weh.

Die Türe von außen verriegelt, peng. Ihr prompt ertönendes Wutgeheul gehört zur Routine. Doch es ist beileibe nicht das erste Mal. Und die Situation ist keineswegs ausweglos. Denn draußen am Eck warten sie nämlich auf mich, das weiß sie genau, echte Freunde, Fußballspielen, ich bin gut im Tor.

Der Rest ist Routine. Erst mal der Pfiff mit Zeige- und Mittelfinger, sehr laut, den kann sie, und schon stehen Georg und Heiner vor dem Fensterchen, mit Klimmzug hievt sie sich in die richtige Höhe, legt den Kopf auf die Seite, so passt er durch, und nach kurzem Ziehen und Zerren ist’s wieder mal geschafft.

Ein, zwei Stunden vergnügt Fußball spielen und dann, um kurz vor sieben, auf dem gleichen Weg zurück in das dunkle Verließ, aus dem das Familienoberhaupt die anscheinend reuige und geläuterte Tochter ein paar Minuten später mit freundlichem Lächeln befreit.

Schön war’s …

Interne Verweise

Kommentare

Detmar Roberts
25. Apr 2017

Bei mir war es eher die Besenkammer mit den ekligen Spinnweben. Befreit hat mich meistens meine kleine Schwester. Manchmal gab's auch Schläge mit dem Stöckchen wegen meiner Streiche. Danach war aber alles wieder gut. Ich habe das in keiner schlechten Erinnerung, fühlte mich trotz der Strafen, die ich meinte, verdient zu haben, geborgen - und erinnere mich gerne daran zurück.
Viele Grüße, D.R.

25. Apr 2017

Wie gut, dass Kinder heute nicht mehr von ihren Erziehungsberechtigten geschlagen werden dürfen. Ich weiß aber, was du meinst mit dem "sich danach wie befreit" fühlen, Detmar. Das Strafkonto war danach wieder leer, alles auf Anfang. Und psychische Strafen wie angedrohter Liebesentzug können viel schlimmere und längerfristige Auswirkungen haben.
Liebe Grüße, Marie

25. Apr 2017

Liebe Marie, bei mir war 's die mehr oder weniger dunkle Abseite (Boden). Allerdings weiß ich immer noch nicht, weshalb ich dort hinein musste. Ich bin vor lauter Angst als Kind dort regelmäßig in Ohnmacht gefallen. Das Wort mit "sch" ... kannte ich nicht, hatte es nie gehört, noch nicht mal von den Schwestern. Weiß nicht, was sie dann mit mir gemacht hätten, hätte ich 's gekannt und gesagt. - Ich fiel in Ohnmacht, weil ich aus der dunklen Kohlenecke den bösen schwarzen Mann auf mich zukommen sah, der mich rütteln und schütteln sollte, damit ich zur Vernunft (zu welcher eigentlich?) käme. Ich weiß bis heute nicht, weshalb ich diese Prozedur mitmachen musste. Egal. Auf jeden Fall warst du ein sehr hübsches kleines Mädchen, das sehr klug und ein bisschen schelmenhaft schaut. Und Mut hattest du - sagenhaft und Respekt!

Liebe Grüße
Annelie

25. Apr 2017

Liebe Annelie, unsere Bestrafungsgeschichten aus der Kindheit sind unterschiedlich, aber sie ähneln sich doch, weil sie von der Hilflosigkeit der damaligen Erwachsenen berichten. "Schwarze Männer" und andere Ungeheuer gab es auch in meinen Träumen. Das allerböseste Wort mit sch kannte ich auch nicht, nur das allgemein gebräuchliche Ersatzwort dafür. Scheibenkleister. Das war schon schlimm genug. Meine Erinnerungen an Kindheit sind trotz der Strafaktionen aber gut, man hatte im Vergleich zu den Kindern von heute so viel mehr Freiheit, auch außerhalb der Familie.
Liebe Grüße, Marie

25. Apr 2017

Liebe Marie, sie waren schon sehr einfallsreich die Erziehungsberechtigten. Bei mir war es der Schrotthändler, der alle paar Wochen bei uns durch die Straßen fuhr. "Lumpen, Alteisen, kleine Kinder!" wenn dieser Ruf zu hören war und mein 'Konto' mal wieder voll war, was sehr häufig vor kam, mußte ich mir meine Sonntagssachen anziehen, mir Gesicht und Hände waschen und erst mein flehentliches: "Bitte, bitte ich will es auch nie wieder tun!" brachte meine Mutter dazu zu sagen: "Na gut, dann wollen wir es noch mal versuchen, du kannst hierbleiben!" Ich frage mich heute was sie gemacht hätte, wenn ich nichts gesagt hätte...
LG Sigrid

25. Apr 2017

Liebe Sigrid, das mit dem "ich will es nie wieder tun, bitte-bitte", kenne ich auch. Die Drohung mithilfe des Schrotthändlers, der böse kleine Kinder einsammelt, die finde ich fieser als das Einsperren im Kohlenkeller, vor allem, weil ich wusste, wie ich "denen" ein Schnippchen schlagen konnte. Drohungen (vieler) Eltern dieser Art, die ja gar nicht nicht ernst gemeint waren, dir als Kind aber sehr realistisch vorkamen - kann man unter "Psychoterror" einordnen. So waren die Zeiten; deine Eltern haben sich nicht viel dabei gedacht - und hatten dich trotzdem lieb.
Liebe Grüße, Marie

25. Apr 2017

Ein zum Teil schöner Blick in eine andere Zeit und Welt...! Ich bekam nur Zimmerarrest oder Fernsehverbot :-((
Liebe Grüße
Soléa

25. Apr 2017

Da hat so jeder seine persönlichen Erinnerungen. Auf welche Art man auch immer Kinder bestrafte oder bestraft - die schlimmste Form bleibt der Liebesentzug. Und der läuft meist ganz ohne Schläge ab.
Lieben Gruß und Dank, Marie

25. Apr 2017

Da werden Erinnerungen wach. Vielleicht war ich ein ausgesprochen braves Kind - schmunzel -, denn ich musste nur zur Christenlehre und zur Beichte gehen. Das hat mir allerdings gereicht. Was dann doch noch schlimmer war, mein Rollschuhfahr-Verbot mit Clemens, dem besten Freund. Liebe Marie, Deine Geschichte geht bis in die eigene Kindheit zurück. Sehr schön!
LG Monika

25. Apr 2017

Liebe Monika, da bist du ja glimpflich davon gekommen. Obwohl das mit dem Clemens sicher auch hart war. Vielleicht gefiel der Junge deinen Eltern nicht, oder sie hielten Rollschuhlaufen für gefährlich. Ich freue mich, dass sich Erinnerungen im Lauf des Lebens etwas verklären. Man behält besonders die komischen Szenen im Gedächtnis, mir geht es jedenfalls so.
Ich grüße dich und danke dir - Marie

26. Apr 2017

Eine durchtriebene Süße, dem Text und dem Foto nach ...

(Schlagen sollten sich - wenn überhaupt - nur Gleich und Gleich. Aber auch Wörter können Brandwunden verursachen.)

26. Apr 2017

Offener Widerstand wäre zwecklos gewesen. Die väterlichen Autoritäten waren sehr präsent. Man musste trickreiche Methoden entwickeln, um eigene kleine Ziele durchzusetzen. Wenn man damit Erfolg hatte, war die Freude groß. Es war trotzdem gut, denn eine große Familie bot Schutz und Zuneigung, man fühlte sich geborgen.
Das "mit den Worten" - ist sehr wahr. Auch heute noch.
Liebe Grüße, Marie