Meine Schwester im Geist war sie, die alte Frau mit den
wachen blauen Augen und weißer Lockenpracht wie ein
Heiligenschein um den schmalen Kopf, mit ihren vollen
jungen Lippen in ihrem vom Leben und Wetter gegerbten
Gesicht in unförmigen knöchellangen südländisch bunten
Sackkleidern, dazu stets einen dunklen Schal mehrfach um
den dünnen Hals drapiert, auch im Sommer, auch nie ohne
ausgefranste Sandalen über dicken Socken,
sie bettelte nicht aggressiv, saß einfach auf dem Bürger
Steig vor Regen geschützt unter den Arkaden vor der
Volksbank, die Beine angezogen, der kleine Becher selten
gefüllt, der Blick offen und neugierig.
Oft habe ich mich mit ihr unterhalten ebenfalls hockend,
wollte Geschichten aus ihrem Leben hören, sie forderte
mich auch auf, von mir zu erzählen, wir hatten Gespräche
über Leben und Tod, wir haben gelacht miteinander, ein
Gewinn war sie für mich, es war herzlich zwischen uns.
Warum sie bettelt, hat sie mir nicht sagen wollen, Armut sei
jedoch nicht der Grund. Mein Zweieurostück verweigerte sie.
Nun habe ich sie seit Wochen nicht
mehr auf ihrem Stammplatz angetroffen
und sorge mich, mehr bleibt mir nicht,
denn wir kannten nur unsere Vornamen.