Die Sonne sinkt

Bild zeigt Friedrich Nietzsche
von Friedrich Nietzsche

1

Nicht lange durstest du noch,
verbranntes Herz!
Verheißung ist in der Luft,
aus unbekannten Mündern bläst mich's an,
– die große Kühle kommt...

Meine Sonne stand heiß über mir im Mittage:
seid mir gegrüßt, daß ihr kommt,
ihr plötzlichen Winde,
ihr kühlen Geister des Nachmittags!

Die Luft geht fremd und rein.
Schielt nicht mit schiefem
Verführerblick
die Nacht mich an?
Bleib stark, mein tapfres Herz!
Frag nicht: warum? –

2

Tag meines Lebens!
Die Sonne sinkt.
Schon steht die glatte
Flut vergüldet.

Warm atmet der Fels:
schlief wohl zu Mittag
das Glück auf ihm seinen Mittagsschlaf? –

In grünen Lichtern
spielt Glück noch der braune Abgrund herauf.
Tag meines Lebens!
Gen Abend geht’s!

Schon glüht dein Auge
halbgebrochen,
schon quillt deines Taus
Tränengeträufel,
schon läuft still über weiße Meere
deiner Liebe Purpur,
deine letzte zögernde Seligkeit.

3

Heiterkeit, güldene, komm!
Du des Todes
heimlichster, süßester Vorgenuß!

Lief ich zu rasch meines Wegs?
Jetzt erst, wo der Fuß müde ward,
holt dein Blick mich noch ein,
holt dein Glück mich noch ein.

Rings nur Welle und Spiel.
Was je schwer war,
sank in blaue Vergessenheit –
müßig steht nun mein Kahn.

Sturm und Fahrt – wie verlernt er das!
Wunsch und Hoffen ertrank,
glatt liegt Seele und Meer.

Siebente Einsamkeit!
Nie empfand ich
näher mir süße Sicherheit,
wärmer der Sonne Blick.

Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?
Silbern, leicht, ein Fisch
schwimmt nun mein Nachen hinaus.

Veröffentlicht / Quelle: 
Nietzsche’s Werke. Erste Abtheilung. Band VIII. Dionysos-Dithyramben. S. 426-428, C. G. Naumann, 1906

Gedichtanalyse: „Die Sonne sinkt“ von Friedrich Nietzsche

Einleitung

Friedrich Nietzsches Gedicht „Die Sonne sinkt“ gehört zu seinen poetischen Werken, die in der Sammlung „Dionysos-Dithyramben“ veröffentlicht wurden. Das Gedicht thematisiert den Übergang vom Tag zur Nacht und nutzt die sinkende Sonne als Symbol für Vergänglichkeit, Veränderung und die inneren Reflexionen des Menschen. Nietzsche verbindet in diesem Werk Naturbeobachtungen mit philosophischen und existenziellen Fragestellungen. Die folgende Analyse beleuchtet Inhalt, Form, sprachliche Mittel und die Botschaft des Gedichts.


Inhaltliche Analyse

Das Gedicht beschreibt die sinkende Sonne als zentrale Metapher für den Lebensabend und die Vergänglichkeit. Es beginnt mit einem Verweis auf das „verbrannte Herz“ des lyrischen Ichs, das auf die ersehnte „große Kühle“ hofft. Dieser Gegensatz zwischen Hitze und Kühle verdeutlicht den Übergang von Aktivität und Lebensfülle zu Ruhe und Reflexion.

In der zweiten Strophe wird die Atmosphäre des Abends durch beschreibende Bilder intensiviert. Die sinkende Sonne verwandelt die Landschaft, und die „glatte Flut“ spiegelt die schwindende Energie des Tages wider. Es wird eine tiefe Verbindung zwischen dem lyrischen Ich und der Natur gezogen, die in den Bildern von „Tränen“ und „Purpur“ Ausdruck findet. Die Darstellung ist stark emotional aufgeladen und vermittelt eine Mischung aus Melancholie und Erfüllung.

Die dritte Strophe hebt die innere Ruhe und das Akzeptieren der Vergänglichkeit hervor. Das lyrische Ich beschreibt die „süße Sicherheit“ und die „näher kommende Heiterkeit“, die im Loslassen von vergangenen Strapazen liegt. Das Bild des müßig treibenden Kahns symbolisiert den Zustand des Innehaltens und der Reflexion.


Formale Analyse

1. Struktur:
Das Gedicht besteht aus drei thematisch zusammenhängenden Strophen, die den Verlauf des Tages – von der Hitze des Mittags bis zur Ruhe der Nacht – nachzeichnen. Die freie Strophenform unterstreicht die Dynamik und Emotionalität des Inhalts.

2. Reimschema:
Es gibt kein festes Reimschema, was die Freiheit und Spontaneität des poetischen Ausdrucks unterstützt. Diese Offenheit spiegelt die Natur der thematisierten Veränderungen wider.

3. Metrum:
Das Gedicht folgt keinem regelmäßigen Metrum. Der freie Rhythmus erlaubt es, den Fluss der Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs nachzuempfinden, und betont die Individualität der sprachlichen Gestaltung.


Sprachliche Mittel

1. Symbolik:

  • Die sinkende Sonne: Symbol für Vergänglichkeit, Abschied und den Übergang zu einer neuen Phase, sei es Tag und Nacht oder Leben und Tod.
  • Hitze und Kühle: Gegensatz von Leidenschaft und Ruhe, von Erfüllung und Erschöpfung.
  • Der Kahn: Symbol für die Reise des Lebens, die am Abend in einen Zustand des Innehaltens mündet.

2. Metaphern:

  • „Die große Kühle kommt“: Metapher für das Ende der Lebensfülle oder die herannahende Nacht als Symbol des Todes.
  • „Glatt liegt Seele und Meer“: Ausdruck der inneren Ruhe und Harmonie.
  • „Siebente Einsamkeit“: Eine mystische Steigerung der Einsamkeit, die auf eine spirituelle oder existenzielle Dimension verweist.

3. Kontraste:

  • Hitze des Mittags vs. Kühle des Abends: Dieser Gegensatz verdeutlicht den Übergang vom aktiven Leben zur Reflexion.
  • Bewegung vs. Stillstand: Die Wandlung vom strebenden, suchenden Menschen hin zur Akzeptanz des Moments.

4. Personifikation:
Die Sonne wird als aktives Wesen dargestellt, das „halbgebrochen glüht“ und Tränen vergießt. Dies verleiht ihr eine menschliche und emotionale Dimension.

5. Wiederholungen:
Der Titel „Die Sonne sinkt“ wird in Variationen in der zweiten Strophe angedeutet, um die zentrale Symbolik zu verstärken.


Interpretation

Nietzsche nutzt die sinkende Sonne als Sinnbild für das Akzeptieren der Vergänglichkeit und das Finden von innerem Frieden. Das Gedicht zeigt, dass der Übergang vom Tag zur Nacht nicht nur Verlust, sondern auch eine Chance zur Reflexion und innerer Erneuerung ist. Die Beschreibung der Natur dient dabei als Spiegelbild der emotionalen und philosophischen Zustände des lyrischen Ichs.

Das Werk greift zentrale Themen von Nietzsches Philosophie auf, insbesondere die Vorstellung, dass der Mensch durch Akzeptanz und Loslassen zu einer tieferen Erkenntnis gelangen kann. Die letzte Strophe mit ihrer Betonung auf Heiterkeit und Sicherheit deutet darauf hin, dass das Ende des Tages – oder des Lebens – nicht zwangsläufig negativ sein muss, sondern auch Trost und Erfüllung bringen kann.


Schluss

„Die Sonne sinkt“ ist ein vielschichtiges Gedicht, das Naturbeschreibung und existenzielle Philosophie miteinander verbindet. Es thematisiert die unausweichliche Vergänglichkeit, aber auch die Möglichkeit, in dieser Vergänglichkeit einen Moment der Erfüllung zu finden. Mit seiner poetischen und philosophischen Tiefe bleibt es ein eindrucksvolles Beispiel für Nietzsches Fähigkeit, komplexe Gedanken in lyrischer Form auszudrücken.

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