Eine Mutter -
was kann mehr sein?
*
Wenn ich meine Mutter seh
- ich seh sie öfter nun im Alter -
spür ich ein gewisses Weh
und wünsch mir einen Zeit-Rückschalter,
um durch ihre Worte zu erfahren
die Antwort meiner vielen Fragen,
die ich früher gar nicht hatte.
Wie war es in den schönen Jahren,
in Mihaileni vor dem Wegzug?
Was ist danach dir widerfahren
im Fünf-Jahre-Hin-und-Her-Zug
Ich hätte früher darauf pochen müssen:
"Mutter erzähle mir, berichte,
von den mir unbekannten Jahren,
in denen wir nicht sesshaft waren,
man euch von eurem Land
durch Bayern und nach Polen schickte -
die lange Flucht von dort, wie bloß?, glückte.
Dann hätte ich kein Loch im Wissen,
das schmerzlich drückt im Bett, im Kissen.
Was ich weiß, ist, was ich sah
so nach meinem fünften Jahr,
als wir gut zusammenlebten -
in der "Alten Molkerei"
in jenem Bauerndorf in Bayern,
in Düsseldorf im vierten Stockwerk -
bis wir uns, nach meinem Auszug,
etwas auseinanderlebten.
Doch warst du immer für uns da,
als wir vom Nichts nach vorne strebten.
Du warst Köchin, Putz- und Waschfrau
in der Flügelstraße-Wohnung,
sowie Schneiderin und Hausfrau...
Gaben wir dir je Belohnung?
Ich hörte dich auch niemals klagen,
doch des öfteren laut freuen,
hast mit der Schwester gern gelacht.
Ihr konntet Freude um euch streuen -
ich habe oft daran gedacht.
Später sahen wir uns selten,
die Arbeit trieb mich durch das Land,
mein Heim im fremden Land ich fand.
Jedoch, wir blieben stets verbunden,
es gab ein Band, das uns verband.
Nach Vaters Tod, kurz nach der Rente,
war eure Wohnung dein allein.
Du hattest deine Angstmomente,
dein Albtraum war das Altenheim.
Ich war dir damals keine Stütze,
hatte Kinder, meine Sorgen.
Deine Ängste und Beschwerden
blieben deshalb mir verborgen.
Du hattest den gewohnten Umgang
mit Schwester, Tochter, einem Sohn.
Dein spätes Leben war ein Fortgang,
das neue, stille war dein Lohn.
Neun Jahre noch war'n dir gegeben,
dann kam der Tod. Wie kam er rein,
so schnell, in die verschloss'ne Wohnung?
Du starbst in ihr, warst ganz allein.
Mutter, dieses ist mein später Dank.
du gabst mir viel und wolltest wenig.
Dein Glück verschwand durch Krieg und Zwang,
doch warst du selten unzufrieden.
Erinnerungen werden lenken
den Blick zu dir mein Leben lang.
Ich werde freudig dir gedenken
und deinen leisen Lebensgang.
*
Eine Mutter -
nichts kann mehr sein!
© Willi Grigor, 2015
Siehe auch "Ein später Brief an die Mutter"
Mihaileni, der Heimatort unserer deutschstämmigen Eltern, (den ich 2018 mit Frau und Sohn doch noch besuchte) war vor dem Krieg ein feines Städtchen - was die Mutter gern erwähnte - in Rumänien, an der Grenze zur Ukraine. Der Wegzug 1940 nach Deutschland war freiwillig, aber aufgrund der Umstände dennoch erzwungen. Ein fünfjähriger Hin-und-Her-Zug durch Bayern und Polen folgte, der am Schluss des Krieges ein vorläufiges Ende im Dorf Segringen bei Dinkelsbühl fand. Ihre Endstation erreichten meine Eltern, mit uns Kindern, zu Weihnachten 1951 in Düsseldorf.