Im Felde schleich ich still und wild,
Gespannt mein Feuerrohr.
Da schwebt so licht dein liebes Bild,
Dein süßes Bild mir vor.
Du wandelst jetzt wohl still und mild
Durch Feld und liebes Tal,
Und ach, mein schnell verrauschend Bild,
Stellt sich dirs nicht einmal?
Des Menschen, der die Welt durchstreift
Voll Unmut und Verdruß,
Nach Osten und nach Westen schweift,
Weil er dich lassen muß.
Mir ist es, denk ich nur an dich,
Als in den Mond zu sehn;
Ein stiller Friede kommt auf mich,
Weiß nicht, wie mir geschehn.
Analyse
Einleitung und Kontext
Das Gedicht lässt sich in die Schaffensphasen einordnen, in denen Goethe Natur, Empfindung und Liebessehnsucht dicht nebeneinanderstellt. Die Verwendung des Jäger-Motivs sowie der Abendstimmung ist in der Zeit des Sturm und Drang sowie der frühen Klassik nicht ungewöhnlich: Der Jäger als Figur steht für Freiheit, Naturverbundenheit, aber auch für ruhelose Wanderschaft. Die Abendstunde dient als zeitlicher Übergang, der zur Kontemplation, zum Innehalten und zur Selbstreflexion einlädt. In diesem Gedicht verschränken sich Natur- und Liebesmotivik zu einer inneren Seelenlandschaft, in der die Erinnerung an die Geliebte den rastlosen Wanderer innerlich beruhigt.
Äußerer Aufbau und Form
Das Gedicht umfasst vier Strophen zu je vier Versen (Quartette). Diese Strophenform vermittelt einen klar gegliederten Aufbau, der die thematische Bewegung von der äußeren Handlung (Wandern, Jagen) hin zur inneren Einkehr und Gefühlslage unterstützt. Jede Strophe stellt dabei eine Sinn- und Gefühlseinheit dar, die gleichsam die Stationen des lyrischen Ichs nachzeichnet.
Reimschema und Klanggestaltung
Jede Strophe folgt einem regelmäßigen Reimschema, das sich als Kreuzreim (ABAB) charakterisieren lässt. Ein Blick auf die ersten Strophen:
-
Strophe:
„Im Felde schleich ich still und wild, (A)
Gespannt mein Feuerrohr. (B)
Da schwebt so licht dein liebes Bild, (A)
Dein süßes Bild mir vor.“ (B)
„wild“ / „Bild“ und „Feuerrohr“ / „vor“ bilden harmonische Paarungen. Vor allem „wild“ / „Bild“ ist ein eingängiger Reim, der die inhaltliche Nähe von ungestümer Natur (wild) und dem innigen, inneren Bild der Geliebten (Bild) klanglich verbindet.
Auch in den weiteren Strophen wird dieses Kreuzreimschema beibehalten, was einen rhythmisch-klanglichen Rahmen schafft. Die Regelmäßigkeit des Reims steht im Kontrast zur inhaltlich dargestellten inneren Unruhe und dem Umherstreifen, was gleichsam einen ästhetischen Ruhepol bietet.
Metrik und Rhythmus
Die metrische Gestalt ist nicht streng klassizistisch durchkomponiert, sondern eher locker gehalten. Der Versfuß wechselt tendenziell zwischen Jamben und trochäischen Anklängen, wobei ein durchgehendes, streng einzuhaltendes Metronom hier nicht erkennbar ist. Jede Zeile misst zwischen sechs und acht Silben, ohne ein einheitliches, festes Metrum durchzusetzen. Diese metrische Freizügigkeit unterstreicht den Eindruck von Bewegung, Unruhe und freiem Umherschweifen. Gleichzeitig sorgt das regelmäßige Reimschema für einen musikalischen Zusammenhalt, der in der Lyrik des Sturm und Drang und der frühen Klassik nicht ungewöhnlich ist.
Das Fehlen eines starren metrischen Korsetts erlaubt es, den Inhalt und die Empfindungen des lyrischen Ichs unverstellt hervortreten zu lassen. Die gedankliche Wendung vom äußeren Jagen hin zur inneren Einkehr spiegelt sich auch in diesem Formcharakter wider: Weder formale Strenge noch völlige metrische Beliebigkeit herrschen, sondern ein balancierter Mittelweg.
Inhaltliche Analyse
Die erste Strophe setzt eine äußere Szene: Das lyrische Ich ist im Feld unterwegs, „schleicht still und wild“ mit gespanntem Feuerrohr – die Szenerie eines Jägers bei der Abenddämmerung ist greifbar. Doch noch während diese äußere Handlung genannt wird, tritt bereits das innere Bild der Geliebten ins Zentrum. Das „liebe Bild“ schwebt dem Ich leuchtend vor Augen. Hier wird bereits ein Kontrast etabliert: Außere Welt (unsichere Jagd, wilde Natur) vs. innere Welt (das helle, ordnende Bild der Geliebten).
In der zweiten Strophe wendet sich das Ich direkt an die Geliebte („Du wandelst jetzt wohl still und mild / Durch Feld und liebes Tal“). Während das Ich im Feld umherstreift, ist die Geliebte, sanft und milde, in einer friedlichen Landschaft unterwegs. Hier schwingt die Sehnsucht nach Teilhabe mit: Das lyrische Ich fragt, ob sein rasch verschwindendes Abbild („mein schnell verrauschend Bild“) sich nicht einmal in ihren Gedanken zeigt. Die Gegenüberstellung von innerer Inbrunst des Liebenden mit der ungewissen Präsenz in der Gedankenwelt der Geliebten prägt diese Strophe.
Die dritte Strophe generalisiert die Situation: Der Mensch, der „die Welt durchstreift / Voll Unmut und Verdruss“, der nach Osten und Westen schweift, weil er „dich lassen muß“, wird zum Archetyp des rastlos Liebenden. Die Geliebte ist nicht einfach nur eine Person, sondern ein Sehnsuchtspol, der durch Distanz Abwesenheit und somit Unruhe erzeugt. Der Jäger wird hier zum Symbol des universellen Wanderers, der Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit in sich trägt, da er vom ersehnten Mittelpunkt seines Herzens getrennt ist.
Die vierte Strophe bringt die Auflösung dieser Unruhe im Inneren des Sprechers: „Mir ist es, denk ich nur an dich, / Als in den Mond zu sehn.“ Der Mond fungiert als Symbol für Ruhe, Distanz und dennoch sanfte Helligkeit. Die bloße Erinnerung an die Geliebte, das Denken an sie, ist wie der Anblick des Mondes: still, beruhigend, von friedvoller Erhabenheit. Dieses Bild vermittelt die ideale Innenschau: Die Person muss nicht physisch anwesend sein, um Seelenfrieden zu spenden. Der Gedanke an sie löst eine tiefe innere Harmonie aus, die das Ich überkommt, „Weiß nicht, wie mir geschehn.“ Diese hingebungsvolle, beinahe mystische Erfahrung unterstreicht die Macht der Vorstellungskraft und der Liebe als innerem Halt.
Motivik und Symbolik
- Der Jäger: Steht für Bewegung, Naturverbundenheit, aber auch für Unruhe, Rastlosigkeit und Suche.
- Das Bild der Geliebten: Ist ein inneres Seelenbild, eine Projektion, die dem Sprecher Halt gibt. Es erhellt seine innere Landschaft, so wie der Mond die nächtliche Welt erhellt.
- Felder und Täler: Symbolisieren die Weite der Welt, die Freiheit, aber auch die Entfernung zwischen Liebenden. Die Natur ist hier zwar Raum des Erlebens, aber auch Raum der Trennung.
- Mond: Typisches Motiv für ruhige, entrückte Stimmungen. Der Mond als stiller Zeuge, als Spiegel der ungreifbaren, aber tröstenden Geliebten.
Sprachliche Mittel
Die Sprache ist schlicht, ohne verschnörkelte Metaphern, aber reich an poetischer Bildhaftigkeit. Wiederholungen von Schlüsselwörtern wie „Bild“ betonen die zentrale Rolle des imaginären Sehen des geliebten Wesens. Das Wechselspiel von direkter Anrede („Du wandelst…“) und Selbstreflexion („Mir ist es…“) verleiht dem Gedicht einen dialogischen Charakter, obgleich die Geliebte abwesend bleibt. Diese Abwesenheit wird so zum Motor der Sehnsucht.
Fazit
„Jägers Abendlied“ vereint in einer klar gegliederten, formal eher einfachen, aber klanglich reizvollen Form Motive der Sehnsucht, Rastlosigkeit und Ruhefindung. Der Jäger als lyrisches Ich offenbart, dass die wahre Beruhigung nicht in der äußeren Welt (der Jagd, der Bewegung durch Felder) zu finden ist, sondern im inneren Bild der Geliebten. Diese Erinnerung wirkt wie ein Mondlicht in der Nacht der Seele: still, fern, aber von tiefer, kontemplativer Kraft. Das Gedicht verknüpft somit Natur- und Liebesmotivik zu einem stimmungsvollen Ganzen, das zugleich universelle menschliche Erfahrungen von Entfremdung, Fernweh, Liebe und innerer Versöhnung spiegelt.