Ein Gleiches (Über allen Gipfeln)

Bild zeigt Johann Wolfgang von Goethe
von Johann Wolfgang von Goethe

Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

Veröffentlicht / Quelle: 
Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Erster Band. Seite 99, J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1827
Bild zeigt Goethe’s Handschrift im Kickelhahn-Häuschen Über allen Gipfeln Ist Ruh', In allen Wipfeln Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest du auch.
Bild zeigt Goethe’s Handschrift im Kickelhahn-Häuschen.

Gedichtanalyse: „Ein Gleiches“ (Über allen Gipfeln) von Johann Wolfgang von Goethe


Einleitung

Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Ein Gleiches“, auch bekannt unter der ersten Zeile „Über allen Gipfeln“, wurde 1780 im Thüringer Wald verfasst. Es zählt zu den berühmtesten lyrischen Miniaturen der deutschen Literatur. In nur vier Zeilen gelingt es Goethe, eine tief empfundene Ruhe und Harmonie zwischen Mensch und Natur zu vermitteln. Diese Analyse untersucht den Inhalt, die formale Gestaltung sowie die sprachlichen und symbolischen Ebenen des Gedichts.


Inhaltliche Analyse

Das Gedicht schildert eine friedvolle Abendstimmung in der Natur. Über den Gipfeln herrscht Stille, die Tiere haben sich zur Ruhe begeben, und der lyrische Sprecher wendet sich in den letzten Zeilen an sich selbst oder den Leser. Der Hinweis „Warte nur, balde ruhest du auch“ verweist auf eine bevorstehende Ruhe, die sowohl als nächtlicher Schlaf als auch als Tod interpretiert werden kann.

  • Thema der Stille und Ruhe: Das Gedicht evoziert eine fast spirituelle Gelassenheit, die sich sowohl auf die Natur als auch auf den Menschen überträgt.
  • Vergänglichkeit und Endlichkeit: Die letzte Zeile erinnert an die Vergänglichkeit des Lebens und deutet auf eine umfassende Ruhe hin, die alle Lebewesen am Ende erwartet.
  • Verbindung zwischen Mensch und Natur: Goethe stellt die Harmonie der Natur in den Mittelpunkt und zeigt, wie der Mensch Teil dieses Kreislaufs ist.

Formale Analyse

  1. Struktur:

    • Das Gedicht besteht aus vier Zeilen, die in einem Quartett angeordnet sind. Diese formale Einfachheit unterstreicht die schlichte Schönheit des Inhalts.
  2. Reimschema:

    • Es liegt kein klassisches Reimschema vor. Die Abwesenheit eines Reims verstärkt den meditativen Charakter und lenkt den Fokus auf die Bedeutung der einzelnen Wörter.
  3. Metrum:

    • Das Gedicht ist im Jambus verfasst, wobei jede Zeile abwechselnd unbetonte und betonte Silben aufweist (x́x x́x). Beispiel:
      „Über allen Gipfeln“ → x́x x́x
      „Ist Ruh“ → x́x.
    • Das regelmäßige Versmaß erzeugt eine rhythmische Ruhe, die mit dem thematischen Inhalt korrespondiert.
  4. Kadenz:

    • Die erste Zeile endet auf eine weibliche Kadenz (unbetonte Endung: „Gipfeln“), während die zweite Zeile eine männliche Kadenz (betonte Endung: „Ruh“) aufweist. Diese alternierenden Kadenzen schaffen einen ausgewogenen Klang.

Sprachliche Mittel

  1. Wortwahl:

    • Die Sprache ist einfach und reduziert, wodurch die Atmosphäre der Ruhe und Schlichtheit hervorgehoben wird.
  2. Personifikation:

    • „Über allen Gipfeln ist Ruh“ gibt der Natur menschliche Eigenschaften, was die Verbindung zwischen Mensch und Umwelt verdeutlicht.
  3. Ellipsen:

    • Goethe verzichtet auf überflüssige Wörter und arbeitet mit elliptischen Strukturen, z. B. „Warte nur, balde ruhest du auch“. Die Reduktion verstärkt die Prägnanz der Botschaft.
  4. Symbolik:

    • „Gipfel“: Die Höhen der Natur symbolisieren Erhabenheit und Distanz zur Hektik des Lebens.
    • „Ruh“: Der Begriff kann sowohl den Schlaf als auch den Tod symbolisieren, was eine doppelte Lesart ermöglicht.
    • „Walde“ und „Vöglein“: Sie stehen für Lebendigkeit und Natur, die sich in die abendliche Ruhe zurückziehen.
  5. Parallelismus:

    • Die beiden ersten Zeilen sind in ihrer Struktur parallel angeordnet, was den ruhigen Fluss der Gedanken widerspiegelt.

Interpretation

Das Gedicht verkörpert Goethes pantheistisches Weltbild, in dem die Natur als Spiegel menschlicher Emotionen dient. Die Stille und Harmonie, die „über allen Gipfeln“ herrschen, vermitteln eine zeitlose, universelle Gelassenheit. Die letzte Zeile öffnet jedoch eine weitere Bedeutungsebene: Der Hinweis auf die eigene Ruhe kann sowohl tröstlich als auch melancholisch wirken. Er deutet auf den Lebenszyklus hin, in dem jeder Mensch seinen Platz findet und am Ende Teil der universellen Ruhe wird.

Goethe lädt den Leser ein, im Angesicht der Natur innezuhalten und sich auf die Grundfragen des Lebens zu besinnen. Das Gedicht erreicht durch seine Reduktion auf das Wesentliche eine zeitlose Eleganz und universelle Gültigkeit.


Schluss

Johann Wolfgang von Goethes „Ein Gleiches“ ist ein Meisterwerk der lyrischen Miniatur. Es verdichtet in wenigen Zeilen die Themen Ruhe, Vergänglichkeit und die Verbindung von Mensch und Natur. Durch die prägnante Sprache, das ruhige Metrum und die subtile Symbolik vermittelt das Gedicht eine zeitlose Botschaft, die in ihrer Einfachheit und Tiefe bis heute berührt.

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D 768 "Über allen Gipfeln ist Ruh" Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Brigitte Fassbaender Cord Garben
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