Das Ohr

Bild zeigt Anner Griem
von Anner Griem

Das Ohr
 
Ich trat näher heran
Tatsächlich, ein Ohr
Ein menschliches Ohr
Wem gehört das Ohr?
Frug ich eine Dame, die
Scheinbar unbeteiligt
Am Fuße der Treppe stand
Auf deren vorletzen obersten Stufe
Jenes Ohr lag, welches ich
Vor Minuten erspähte
Keine Ahnung, sie erwiderte
Meine Frage mehr ungehalten als nötig
Mir scheint, es hat jemand
Verloren und es nicht bemerkt
Ein Herr im gesetzten Alter
Elegant gekleidet, rief es mir
Auf der obersten Stufe zu, um
Überrascht hinzuzufügen
Es hat einen Knopfhörer im Ohr
Oder heißt es Ohrhörer?
Also ein Hörohr, meinte die
Dame von unten, sie erklomm jetzt
Etwas schwerfällig Stufe für Stufe
Um zu uns aufzuschließen
Stoisch lag es da, dieses Ohr
Ohne nur einen winzigen Millimeter
Mit dem Ohrläppchen zu wackeln
So, als würde es die ganze Aufregung
Um es herum nicht interessieren
Man müsste die Polizei informieren
Meinte die Dame, die sich jetzt auf
Der obersten Stufe sitzend, das ruhig
Da liegende Ohr näher anschaute
Vom nahen Kirchturm schlug die
Uhr zwölf, Reflexartig zog der elegant
Gekleidete Herr den linken Ärmel seines Jacketts
Nach oben, schaute auf seine Armbanduhr
Herrschaften, ich muss, die Pflicht ruft
Er ging eilenden Schrittes die Stufen hinunter
Übrigens, rief er von unten hinauf
Vorhin begegneten mir oben zwei englisch
Sprechende Männer, sie tuschelnden sehr
Aufgeregt miteinander, Mahlzeit rief die Dame
Und entschwand, plötzlich leichtfüßig die
Letzte obere Stufe nehmend, meinen Blicken
Behutsam nahm ich das Ohr mit
Meinem Taschentuch auf, wickelte es
In das selbige und beschloss, es baldigst
Anonym an den Bundesnachrichtendienst zu schicken
 
Anner Griem /2013
 

Gedichtform: 
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