Für Gerlinde
„Guck mal, da unten sitzt einer!“
„Wo?“
„Na schau, dort am Bach. – Siehst du ihn?“
„Ja, seht nur, ein Mensch. Er schläft.“
„Nein, er schreibt.“
Die miteinander redeten, waren aber Bäume. Und weil Bäume gemeinhin nicht miteinander reden – das meinen zumindest die Menschen – , mußte es sich wohl um einen besonderen Wald handeln.
Es war aber kein besonderer Wald.
Allerdings war es ein besonderer Mensch, der dort unten saß. Und weil die Bäume – wie alle anderen Lebewesen auch – neugierig sind, neigten sie sich tiefer, ihn zu betrachten. Doch durch ihr dichtes Blätterwerk konnten sie nicht so genau erkennen, was er tat.
„Eine Säge hat er nicht dabei“, berichteten die Eichhörnchen und beruhigten die Bäume.
„Sieh nur, ein Gedanke!“ rief eine junge Birke und zitterte erwartungsvoll im Morgenlicht.
„Ja, ein Gedanke“, bestätigte auch die große alte Buche. „Wo er wohl hinfliegt?“
Es kam nicht so häufig vor, daß ein Gedanke frei im Wald umherflog. Die Pflanzen und auch die Tiere behielten ihre Gedanken für sich. Sie kannten einander seit vielen, vielen Jahren und wußten, was sie voneinander zu halten hatten.
„Gedanken“, hatte vor langer Zeit einmal eine weise, alte Eule zu ihren Kindern gesagt, „Gedanken sind aus einem besonderen Material gewebt. Glaube, Phantasie, Erkenntnis gehören dazu – und Liebe. Liebe ist der Kettfaden, der alles zusammenhält. Gedanken sind die Kleidung der Seele.“
Alle hatten sie es gehört, die Tiere und die Pflanzen, und der Wind trug es weiter, überall hin, denn das ist die Wahrheit. Und man müßte schon ein gedankenloser Mensch sein, um anzunehmen, daß Tiere und Pflanzen keine Seele haben.
Der Gedanke aber, den die junge Birke gesehen hatte, schwebte wie zarter Morgennebel zwischen den Bäumen und Gräsern. Und alles, was er berührte, nahm etwas auf von seiner Farbigkeit, seiner Sinnenvielfalt, und wob es ein in das eigene Gedankenkleid. Und auch der Mensch dort unten, zwischen den hohen Bäumen am Wasser, spürte die Berührung des Gedankens – oder besser gesagt, er bemerkte eine seltsame Veränderung in der Umgebung und auch an sich selbst. Das Gemurmel des kleinen Waldbaches zu seinen Füßen war in seinen Ohren nicht länger nur ein Geräusch, es wurde zum Gespräch. Und als er zu den Bäumen hinauf sah, da schien es ihm, als tuschelten sie leise miteinander.
Und eine junge Birke wiegte sich in einem Kleid aus Licht, das ihr die Morgensonne geschenkt hatte, und sah ihn lächelnd an: „Möchtest du mit mir tanzen?“ wisperte sie.
Und eine große, vornehme Buche, in einem grauen Rock mit vielen Augen, raschelte vorwurfsvoll: „Na, na!“ Aber um die Augen hatte sie Lachfalten. Und der Mensch, der an dem kleinen Waldbach gesessen hatte, ging zu der jungen Birke und faßte sie um die Taille, ganz zart, und er spürte, wie sie sich an ihn schmiegte.
Dieter J Baumgart