‘Es war einmal’ – so fangen alle Märchen an. Aber dies ist eine wahre Geschichte. Es war also wirklich einmal – ein Fleck. Und wie die meisten Flecken, so hatte auch der, dem dieser Bericht gewidmet ist, ein bewegtes Leben. Gleich in welcher Form er sich zeigte, rund, länglich oder eiförmig, stets war er unerwünscht und wurde – wenn möglich – sofort entfernt; wobei neben Papier und nassen Lappen häufig auch übelriechende Flüssigkeiten und andere unangenehme Materialien zur Anwendung kamen.
Zugegeben: hin und wieder, zumal wenn er auf einer vorgeblich reinen Weste sein Dasein fristete, hatte er schon so manche Karriere gestoppt. Dabei war er durchaus umgänglich und gelegentlich sogar schmackhaft. Doch er teilte mit vielen seiner Leidensgenossen das gleiche Los: Nirgendwo durfte er sein, überall vertrieb man ihn und scheute gelegentlich nicht einmal davor zurück, ihn mitsamt dem befleckten Gegenstand zu vernichten.
Wie die meisten Flecken, so hatte auch der, von dem hier die Rede ist, seine geheimen Wünsche. Gerne wäre er einmal Leberfleck an irgendeiner schönen Stelle gewesen. Und in ganz kühnen Träumen wähnte er sich als Sonnenfleck, hoch oben am Firmament. Aber stets, wenn er wach wurde, sah er sich als Fett-, Ei- oder Schmierfleck an einer offensichtlichen Stelle, was seine sofortige Entfernung zur Folge hatte. All seine Kreativität nutzte ihm nichts, denn er landete entweder bei phantasielosen Leuten oder auf Stellen, wo ‘man’ sich keine Flecken leisten konnte.
Gewiß, manchmal hatte er Glück, wenn er sich an Stellen niederließ, an denen er nicht sogleich bemerkt wurde, weil schon Hunderte von seinesgleichen versammelt waren. Doch irgendwo hat schließlich auch ein Fleck den Wunsch und ein gewisses Recht auf Eigenständigkeit. Und so war er stets froh, durch Vernichtung der Anonymität der Massenbefleckung zu entgehen.
Angesichts solcher existentiellen Probleme war es nur zu verständlich, wenn er wehmütig der Zeiten gedachte, da man noch die Chance hatte, als Tintenfleck auf einem wichtigen Dokument womöglich ins Museum zu kommen. Aber wer schrieb denn noch mit Tinte. Und seit der Videowelle wurden auch die Chancen, als Fettfleck in ein gutes Buch zu kommen, immer spärlicher. Wen nahm es da wunder, wenn der eine oder andere Fleck angesichts dieser Welle von äußerlicher Reinlichkeit um den stofflichen Fortbestand der Gattung fürchtete und alternative Existenzmöglichkeiten in Betracht zog.
Doch das alles sollte sich eines schönen Tages ändern.
Unser Fleck hatte sich vorgenommen, einen neuen Start als Kaffeefleck zu wagen. Sozusagen in der vorgeburtlichen Phase seines neuen Daseins, schwamm er in einer dieser typischen, silbrigen Büro-Thermoskannen und vertraute sich wieder einmal einem ungewissen Schicksal an, das auch alsbald seinen Lauf nahm. Die erwähnte Kanne geriet in Bewegung, vollführte einen Landeanflug über einem mit Papieren aller Art belegten Schreibtisch aus hochwertigem Naturmaterial, stoppte das Vorhaben kurzfristig, um eine ebenfalls über dem Tisch schwebende Tasse zu befüllen, und – platsch – da war es auch schon geschehen: Naß und braun zierte der Fleck, von dem hier die Rede ist, ein blütenweißes Blatt Papier im Format DIN A 4, je nach dem wie man es betrachtete, rechts oder links, oben oder unten.
Na ja, dachte unser Fleck, während er vor sich hin trocknete, das war es dann wohl. Ab in den Papierkorb, zu Cocadose, Apfelsinenschalen und Tipp-Ex. Doch nichts geschah, alles blieb ruhig. Kein Aufstöhnen, kein gequetschtes „Verdammt!“ Selbst das Schicksal, wie auch immer es geartet sein mochte, hielt den Atem an. Und doch war da etwas in der Luft.
– Ja, der Fleck spürte förmlich, wie der Blick des mutmaßlichen Schreibtischinhabers auf ihm ruhte.
Es war ein Blick aus kühlen grauen Augen, umgeben von Falten, die das Leben gezeichnet hatte. J.W.A. – wir können auf den ausgeschriebenen Namen verzichten, weil er ohnehin in allen bibliographischen Verzeichnissen bedeutender Persönlichkeiten des öffentlichen wie des kulturellen Lebens vertreten ist –, J.W.A. also betrachtete den Fleck.
J.W.A., dem sowohl die deutsche wie auch die englische Sprache eine bedeutende Wortneuschöpfung verdankt – bekanntlich wurde der Begriff ‘Kreaktivität’, englisch ‘creactivity’, von ihm geprägt – J.W.A. also schenkte seine ganze Aufmerksamkeit dem Neuankömmling. Das geistige Umfeld, das sich zu dieser frühen Morgenstunde in den Hirnen einiger Mitarbeiter J.W.A.s manifestierte, erschauerte förmlich angesichts der geballten Kreaktivität, die hinter der Stirn des Meisters spürbar wurde. Und selbst auf den Fleck übertrug sich eine Ahnung von dem, was sich der Nachwelt als wesentliche Epoche in der Entwicklung der Bildenden Künste darstellen sollte. Es war, wie Generationen späterer Kunstschüler ihren Lehrbüchern entnehmen konnten, es war die Geburtsstunde des ‘Flecktionismus’, von losen Mäulern auch ‘Fleckfieber’ genannt.
Doch was war geschehen?
Das Standardwerk, das sich mit der neuen Kunstrichtung befaßt, J.W.A.s ‘Reflecktionen’, schildert die Schaffensperiode des Großmeisters in ausgesprochen lebendiger, anschaulicher Form. Doch wir wollen die Wurzeln freilegen. Wie konnte ein simpler Kaffeefleck derart in die Geschichte der Kunst eingehen?
Um das zu begreifen, müssen wir erst einmal gedanklich an J.W.A.s Arbeitstisch zurückkehren. Denn hier hatte zweifellos der Zufall Regie geführt. Der eigentliche Schöpfungsakt begann, darin sind sich die Kunsthistoriker einig, mit der Wahrnehmung des Flecks durch J.W.A. Eine besondere gedankliche Konstellation mag den Meister bewogen haben, einen Graphic-Pen zur Hand zu nehmen und ihn – und das ist das Faszinierende an diesem Vorgang – an den Konturen des inzwischen getrockneten Fleckes anzusetzen. Und so geschah es, daß drei Buchstaben, die Signatur des Meisters, den Fleck buchstäblich zum Kunstwerk erhoben.
Doch fast sollte ein weiterer Zufall alles wieder zunichte machen. Es mutet an wie die nackte Ironie des Schicksals, daß sich – so wird berichtet – die doppelflügelige Ateliertür öffnete und Herbert H. Hinterman, Kunstsammler und Mäzen, in den Raum stürmte. Die Blätter auf dem Arbeitstisch wirbelten durcheinander. Der Fleck war weg!
J.W.A. und Herbert H. Hinterman waren bei ihrem Lieblingsthema ‘Kunst und Kapital’. Und wieder wollte es der Zufall, daß Herbert H. Hinterman ein Blatt aus dem Wust von Papieren fischte, um eine seiner bestechenden Zahlenkolonnen aufmarschieren zu lassen. Das Blatt, das er schließlich in der schmalen Hand hielt, war befleckt – und signiert.
Herbert H. Hinterman stutzte, nahm die Brille (Feingoldrahmen, 0,5 Dioptrien) zur Hand und japste schließlich: „Das ist ja kolossal!“
Beide Herren begaben sich augenblicklich, unter Mitnahme des Fleckes und unter Zurücklassen der Meisterschüler, in die Bibliothek, um sie erst zu später Nachtstunde wieder zu verlassen.
Wir überspringen die Jahre, in denen Anerkennung und Kritik einander die Waage hielten oder in wildesten Äußerungen überboten. Wie auch immer, nicht zuletzt dank der kapitalen Unterstützung Herbert H. Hintermans und eines begnadeten PR-Teams konnte sich der Flecktionismus schließlich nicht nur in der Kunstszene etablieren, er wurde zum Markstein in der Entwicklungsgeschichte der abendländischen Kunst.
Der Fleck übrigens, von dem hier vorwiegend die Rede war, dieser Fleck, der davon träumte, einmal Sonnenfleck zu sein, er hängt nun in einem eigens nach Plänen von J.W.A. erbauten Museum. Und das ist doch auch schon was. Oder etwa nicht?